7. Oktober 1975

Interview von Willy Brandt mit Eberhard Pikart über Konrad Adenauer

Frage: Als Regierender Bürgermeister Berlins (von 1957 bis 1966) konnten Sie die Politik Konrad Adenauers von wichtigster Stelle aus beobachten. 1966 wurden Sie Außenminister der Großen Koalition und 1969 schließlich selbst Bundeskanzler. Wie blicken Sie heute aus der eigenen Erfahrung des Amtes auf den ersten Kanzler der Bundesrepublik zurück?

Antwort: Zunächst einmal, bei allen Unterschiedlichkeiten des Standorts, mit viel Respekt. Konrad Adenauer hat die Phase des Wiederaufbaus entscheidend beeinflußt. Und er hat das Amt des Bundeskanzlers unverwechselbar geprägt.

Wenn ich an die außenpolitischen Entscheidungen denke, möchte ich erst etwas zu den Jahren bis 1957 sagen. Damals war ich noch nicht Bürgermeister, trug aber schon einige Verantwortung in Berlin und war zugleich einer der jüngeren Sozialdemokraten im Bundestag. In dieser Anfangsphase war die außenpolitische Orientierung für mich ein spannungsgeladener Gegenstand. Einmal war ich - wie die meisten meiner politischen Freunde - der Meinung, daß man die Hoffnung auf eine baldige staatliche Lösung für ganz Deutschland - das also, was man „Wiedervereinigung“ genannt hat - nicht aufgeben durfte. Auf der anderen Seite befand ich mich als Berliner Politiker und aufgrund der Erfahrungen meines politischen Lebens in einem gewissen Gleichklang mit Konrad Adenauer, soweit es um die Anlehnung an den Westen ging. Als Bürgermeister hatte ich dann mit dem damaligen Bundeskanzler keineswegs nur Kontroversen, sondern bei dem engen dienstlichen Kontakt auch manche Berührungspunkte.

Für eine differenziertere Untersuchung reicht das, was ich eben sagte, natürlich nicht aus. Bei den damals geführten Kontroversen ist natürlich nicht Ost- oder Westorientierung die Streitfrage gewesen, sondern vielmehr die Methode, mit der die Anlehnung an den Westen - und in ihrer Folge: die westliche Integration -vollzogen wurde. Auch wenn man glaubte, daß es Alternativen gegeben hätte und die Methodik des Sich-Verständigens mit den westlichen Mächten, des Sich-Einfügens im einzelnen anders hätte ausfallen können, so ist in der Zwischenphase - bis ich selbst die politische Verantwortung in Bonn übernahm - doch eines deutlich geworden: was inzwischen in der Welt geschehen war und wie die deutsche Politik sich dazu verhalten hatte, war die gegebene außenpolitische Grundlage. Von der aus mußte man arbeiten, von der aus hat man auch gearbeitet. Als ich Ende 1966 ins Auswärtige Amt ging und 1969 ins Kanzleramt, mußte ich mir mehr als einmal die Frage stellen: Wie hat Konrad Adenauer das vorher gemacht? Was hat er erreicht? Manches habe ich mit ihm selbst noch besprochen, zum Beispiel auch Ansätze dessen, was man später Ostpolitik nannte.

Frage: Hatten Sie als Außenminister und dann als Bundeskanzler das Gefühl, eine neue Politik versuchen zu müssen, oder konnten Sie auf dem aufbauen, was eben von Adenauer geschaffen wurde?

Antwort: Ich bin als Außenminister und danach als Bundeskanzler von der Grundlage ausgegangen, die Adenauer geschaffen hatte. Das galt zunächst einmal für die Fundamente der Westpolitik: Erstens das deutsch-amerikanische Verhältnis als Teil des Atlantischen Bündnisses und die deutsch-amerikanischen Beziehungen als solche, zweitens die Arbeit an der westeuropäischen Einigung und drittens die dominierende deutsch-französische Komponente, die übrigens zwischen Adenauer und mir nie strittig gewesen ist.

Ich fand es nicht schwierig, dort anzuknüpfen. Man kann im Nachhinein der Meinung sein, daß manches anders hätte durchgeführt werden können, etwa beim deutsch-französischen Vertrag von 1963, der für Präsident de Gaulle durch die atlantische Präambel nur noch halb so viel wert war. Nun muß man gewiß gleich hinzufügen, daß Adenauer selber die Präambel nicht wollte, sondern sie unter dem Druck des Bundestags widerwillig akzeptieren mußte. Aber sie wurde ihm nicht zuletzt deswegen abverlangt, weil der Elysée-Vertrag nach der amerikanischen Seite hin nicht abgesichert worden war. Unter Erhard war es dann so, daß - von Adenauer mehr als einmal kritisiert - das Verhältnis zu Paris sich verschlechterte und auch die Beziehungen zu Washington belastet blieben. Wir - Kurt Georg Kiesinger und ich - standen da vor der Aufgabe, sowohl nach amerikanischer als auch nach französischer Seite die Beziehungen neu zu beleben, sie weiter zu entwickeln. Die Außenpolitik dieser Jahre ist aber in keiner Weise durch einen Bruch gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Bemühen um eine sinnvolle Weiterentwicklung.

Wir konnten dann, zumal was die Europäische Gemeinschaft angeht, manches wieder aufgreifen, was im Laufe der Jahre davor schon versucht worden war. Wir sind allerdings an einem Punkt angelangt, der nicht ganz den Vorstellungen der Gründungsväter eines integrierten Europa entsprach. Nicht, weil wir etwas gegen deren Vorstellungen gehabt hätten, sondern weil sich ergab, daß die Zusammenfügung der Kräfte im westlichen Europa nur durch eine Mischung aus supranationalen Lösungen und Formen der Kooperation zu erreichen sein würde. Auf die Buchstaben all der schönen Konferenzreden und Kommuniqués, auf die vielen institutionellen Fragen will ich hier nicht eingehen, sie haben uns nicht sehr viel weitergeholfen.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Was die Westpolitik angeht, stellt eigentlich nichts von dem, was wir seit 1966 gemacht haben, einen Bruch dar. Es gab Akzentverschiebungen, aber wir bauten auf den von Adenauer geschaffenen Grundlagen auf. Den Wissenschaftlern obliegt es, sich damit zu beschäftigen, was man etwa anders hätte versuchen sollen. Dies gilt aber natürlich auch für die Jahre zuvor, das heißt, ob für die Lösung der deutschen Fragen alles ausgelotet worden ist.

Frage: Sie sagten zuvor, manche Ansätze dessen, was man später Ostpolitik genannt hat, hätten Sie mit Adenauer selbst besprochen. Welche Themen wurden da erörtert?

Antwort: Ich will Ihnen drei Beispiele nennen: Wir hatten im Herbst 1962 ein langes Gespräch in Cadenabbia über das Verhältnis zur DDR. Der jetzige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz und Felix von Eckardt waren dabei. Da waren wir nahe dran an einer Konstruktion, die vorsah, aus der damaligen Interzonen-Treuhandstelle - zum Beispiel mit einem in den Ruhestand getretenen Generalkonsul als Leiter des neu zu schaffenden nicht-ökonomischen Teils dieser Behörde - etwas zu machen, was diesseits der völkerrechtlichen Anerkennung geblieben wäre und doch das Verhältnis zum anderen deutschen Staat in eine neue Form gebracht hätte. Da gab es bei ihm eine Offenheit und auch Suche nach zweckmäßigen Formen - eine neue Art der Zurkenntnisnahme der DDR. Vor seinem Rücktritt dann - im Frühjahr 1963 - überraschte er mich im Schöneberger Rathaus mit der Frage, was ich denn von der Hallstein-Doktrin halte; Heinrich von Brentano war dabei. Auf meine erstaunte Frage, was das solle, kam die Replik, manchmal müsse man was weggeben, solange man noch etwas dafür kriege. Kurz danach, in seinem Bonner Amtszimmer, das später einmal meines gewesen ist, wurde das dann noch einmal aufgegriffen, wenn auch in der Sache nicht eigentlich weitergeführt. Und dann kann ich mich an ein Gespräch erinnern, als er schon nicht mehr Kanzler war. Da - es war wohl 1965 oder 66 - kam es mit einem gewissen Groll heraus, ob ich nicht auch der Meinung sei, daß wir die Russen unnötig isoliert hätten. Der frühere Botschafter Sorin sei doch - vom Auswärtigen Amt, wie er meinte - offensichtlich falsch behandelt worden. Das hat ihn damals stark beschäftigt, und es muß ihm schon vorher zu denken gegeben haben. Es kam ganz stark heraus - in seiner einfachen Sprache -, daß er das Gefühl hatte, man müßte etwas tun, um das Verhältnis zu dieser großen Macht zu entlasten.

Einige Tage nach dem 13. August 1961 hat er bekanntlich den Botschafter Smirnov kommen lassen und ließ danach bekanntgeben, der Streitgegenstand solle nicht ausgeweitet werden. Das habe ich damals - als Regierender Bürgermeister Berlins - kritischer als er gesehen! Dieser ganze Komplex hat ihn, was nun auch die Krone-Papiere zeigen und was sonst noch nach außen bekannt geworden ist, damals sehr beschäftigt. Und jetzt gebe ich Ihnen meinen etwas vereinfachten Kommentar dazu: Ich glaube, er hat nicht mehr die Kraft gehabt, vielleicht auch nicht die Lust, aus diesen Ansätzen heraus eine neue Politik zu entwickeln. Er ließ es mit hingeworfenen Dingen gut sein. Zwar beeindruckte es ihn sehr, welche Rolle die Sowjetunion in der Dritten Welt zu spielen begann, zum Beispiel im Verhältnis zwischen Indien und Pakistan. Er war wohl auch beeinflußt von General de Gaulle, der seine Ziele in zwei Phasen zu erreichen suchte: Einmal die Sowjetunion hart angehen (so auf dem Gipfel von 1960 in Paris mit dem Zusammenprall zwischen Eisenhower und Chruschtschow), dann die Öffnung nach Osten zur Verwirklichung seines Konzepts eines Europa über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg. Da gab es viele Elemente. Ich will aber nun nicht suggerieren, daß er schließlich bei dem gelandet wäre, was man meine Ostpolitik genannt hat. Sicher war, es konnte auch in seinen Augen nicht mehr alles so bleiben, wie es war.

Frage: Sind Sie bei Ihren Verhandlungen in Moskau auch auf Adenauer zu sprechen gekommen?

Antwort: Sie sollten bedenken, daß es in der Sowjetunion vor Adenauers Besuch einen Führungswechsel gegeben hatte, es war zu Beginn der Chruschtschow-Zeit. Breschnew gehörte damals nur im weiteren Sinne zur Führung. Ich kann mich aber erinnern, daß beim ersten Mal, als ich Breschnew begegnet bin - nach der Vertragsunterzeichnung im August 1970 - sich der Generalsekretär nicht nur der Form halber auf die Beziehungen berufen hat, die durch und mit Adenauer aufgenommen worden sind. Die Verantwortlichen in der Sowjetunion haben immer wieder Wert auf Kontinuität gelegt und mir gegenüber sogar mehrfach betont, daß es nicht in ihrer Absicht läge, durch die Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen das Verhältnis zu unseren westlichen Partnern zu belasten.

Frage: Um das Wort Kontinuität auf die Innenpolitik anzuwenden: Hat sie nicht vielleicht da Abstriche erfahren? Adenauer war wohl auch eine Herausforderung an die SPD, nicht allein während der Wahlkämpfe.

Antwort: Natürlich gerade im Wahlkampf. Ich habe ja nur einen direkt gegen ihn geführt, und da war er nicht zimperlich. Aber selbstverständlich hat dieser Mann auch sonst in der Innenpolitik eine große Rolle gespielt. Weniger in der Wirtschaftspolitik, die er weitgehend Ludwig Erhard überlassen hat, der sie weitgehend der Wirtschaft selbst überließ. Bei den Finanzen war das schon anders. Da ist mein Bild geprägt durch die Sicht des Berliner Bürgermeisters, der es leicht hatte, mit Adenauer zu reden, der selbst einmal Oberbürgermeister gewesen war. Im Grunde meinte er, Geld sei dazu da, um ausgegeben zu werden; man habe Leute dafür, daß es irgendwo herkomme. Er konnte sich richtig freuen über neue Planungen, zum Beispiel im Städtebau. Er erinnerte gelegentlich daran, wie er vor 1933 befehdet worden war wegen der Anlage des Kölner Grüngürtels und wegen der „Mogelei“ bei der Finanzierung der Rheinbrücke. Wissen Sie, es gibt so eine Art Solidarität der Bürgermeister!

In einem sehr wichtigen Punkt stand ich Adenauer recht kritisch gegenüber, wobei ich aber - jetzt durch den Abstand - zu einer positiveren Beurteilung neige: Die große innenpolitische Realisierung Adenauers lag darin, Abstand zu dem zu schaffen, was zuvor geschehen war, Zeit zu gewinnen für diesen neuen Staat: durch das absichtlich nicht so harte Maßstäbeanlegen an diejenigen, die im Dritten Reich engagiert gewesen waren; er war da gar nicht so weit von Kurt Schumacher entfernt. Man konnte ein Volk nicht mittendurchspalten und es über die Runden der Ereignisse jener zwölf Jahre bringen wollen. Er hat auch sonst „Rollen“ gespielt - ausgleichende Rollen -, um so eine neue Generation langsam heranwachsen zu lassen. Für den Staat Bundesrepublik Deutschland war das von großer Bedeutung, vor allem aber auch für Adenauers Engagement als Parteipolitiker, für das Schaffen einer großen Sammlungspartei, der CDU. Damit hat er ein gutes Stück Stabilität in den „Laden“ gebracht. Das hat dann doch viel bedeutet.

Dann kommen allerdings auf der anderen Seite, so glaube ich, unnötig starke Polarisierungen, die er ganz bewußt in Kauf genommen hat - nicht nur, um im Wahlkampf Stimmen zu gewinnen. Er wollte den Abstand nie zu klein werden lassen, weil die CDU dadurch in Gefahr gekommen wäre. Er meinte den „Graben“ haben zu müssen, um das eigene parteipolitische Lager zusammenzuhalten.

Frage: Können Sie sich - in diesem Zusammenhang - Adenauer in der Rolle des Oppositionsführers vorstellen?

Antwort: Er hätte das wohl nicht gemacht, außer vielleicht ganz zu Beginn. Er war als Bürgermeister gewohnt, die Opposition mitzuverwalten, wie Theodor Eschenburg es einmal gesagt hat.

Frage: Was ist zur Vorbereitung als Bundeskanzler besser, Ministerpräsident oder Bürgermeister?

Antwort: Nun, das kann ich schwer beurteilen, denn als Regierender Bürgermeister war ich ja gleichzeitig Chef einer Landesregierung und Mitglied des Bundesrats. Auch muß man sehen, daß Adenauer viel länger als ich Bürgermeister war und dies schon während des Ersten Weltkriegs! Bei mir waren es nur zehn Jahre, bei ihm sechzehn. Aber es ist schon etwas Prägendes daran. Da liegen auch Ursachen für Gemeinsamkeiten. Dabei will ich gar nicht erst so weit gehen wie Ernst Reuter, der einmal sagte, wenn wir eine neue Verfassung machen, dann darf eigentlich nur der nationale politische Verantwortung tragen, der zuvor kommunale Erfahrungen gesammelt hat. Das geht vielleicht ein bißchen zu weit, aber schaden könnte es nicht.

Die Bürgernähe ist für den Bürgermeister etwas Selbstverständliches. Man hat zu den praktischen Dingen einen ganz starken Bezug. Man sieht, wie eine Stadt sich verändert. Bei Adenauer wie bei mir war dabei keineswegs alles kommunal, zum Teil ging es auch um große Politik. Aber es ist eine heilsame Lage im Vergleich zur sogenannten „großen Politik“, bei der oft nichts herauskommt. Man sieht, woher das Geld kommt, wo es hingeht - beim Richtfest, bei einer Einweihung usw. Da kommt viel auf den Stil an. Und die Eigenheiten des einzelnen, die sich in dem einen Amt äußern, schlagen sich dann auch in dem höheren nieder. Da haben Adenauer und ich uns allerdings deutlich voneinander unterschieden, denn der kollegiale Stil ist nun einmal bei mir stark ausgeprägt, während er ihm im Grunde nicht eigen war. Aber es war für uns beide sicherlich eine gute Erfahrung, von der Stadt aus, von der Bürgernähe aus, in den Gesamtstaat zu wirken. 

Quelle: Konrad Adenauer 1876-1976. Hg. von Helmut Kohl in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Stuttgart-Zürich 1976, S. 63-67.