8. September 1952

Rede bei der ersten Sitzung des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl in Luxemburg

 

Exzellenzen, meine Damen und Herren!

Gemäß den Bestimmungen des Vertrages über die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sind heute die Außenminister und Wirtschaftsminister der sechs vertrag­schließenden Länder - Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande - zusammengetreten, um den im Vertrage vorgesehenen Ministerrat zu konstituieren und ihre Tätigkeit aufzunehmen. Mir ist als dem Vertreter des Landes, das nach der alphabetischen Reihenfolge unserer Staaten voransteht, die Ehre zugefallen, der erste Präsident des Ministerrats zu sein.

Ich begrüße zunächst die Herren Minister der luxemburgi­schen Regierung und darf ihnen im Namen des Rates für die Aufnahme danken, die Stadt und Land Luxemburg den Or­ganen der Gemeinschaft bereitet haben. Die Aufnahme solcher Institutionen bringt manche Erschwernisse mit sich; umso herzlicher danke ich den Luxemburgern, dass sie diese Erschwernisse auf sich genommen haben.

Ich begrüße den Präsidenten und die Mitglieder der Hohen Behörde. Ich bin überzeugt, dass die Organe der Gemeinschaft eng zusammen arbeiten werden.

Ich begrüße ferner die Mitglieder des bei der Großherzoglich Luxemburgischen Regierung beglaubigten Diplomatischen Korps, und ebenso die Vertreter der großbritannischen Mission und der Mission der Vereinigten Staaten von Amerika bei der Hohen Behörde, deren Entsendung uns eine enge Verbindung zwischen der Gemeinschaft und diesen beiden Ländern ver­bürgt.

Mit der heutigen Konstituierung des Rates tritt, nachdem die Hohe Behörde bereits vor einem Monat ihre Arbeit auf­genommen hat, nunmehr das zweite Organ der Gemeinschaft in Tätigkeit.

Die Aufgabe, die seiner wartet, ist groß und verantwortungs­voll. Er ist das föderative Organ der Gemeinschaft. Als solches hat er nach dem Vertrage eine doppelte Aufgabe.

Einerseits wird er als Gemeinschaftsorgan tätig, d. h. als ein Organ des supranationalen Gebildes, das, mit eigenen Hoheitsrechten ausgestattet, nunmehr unabhängig neben den Staaten steht. Als Gemeinschaftsorgan ist der Rat beteiligt an der Ord­nung und Verwaltung der Hoheitsrechte, welche die Mitglied­staaten aus ihrem Bereich abgesondert und auf die Gemein­schaft übertragen haben. Er ist in dieser Eigenschaft durch den Vertrag zu umfassender Mitwirkung an den von der Gemein­schaft zu treffenden Regelungen berufen: er wird zu allen wesentlichen Maßnahmen der Hohen Behörde gehört, in wich­tigen Fällen ist seine Zustimmung oder Entscheidung notwen­dig; in besonders bedeutsamen Fragen bedarf es seines ein­stimmigen Beschlusses.

Der Ministerrat hat noch eine zweite Aufgabe. Er vertritt nicht nur die Interessen der Gemeinschaft auf dem Gebiet der übertragenen Hoheitsrechte, sondern er nimmt auch die Inter­essen der Mitgliedstaaten selbst auf dem Gebiete der ihnen verbliebenen Hoheitsrechte wahr. Das betrifft sowohl die Fragen der allgemeinen Wirtschaft, wie die sonstigen Fragen des staatlichen Lebens, insbesondere die politischen Fragen, die durch die Tätigkeit der Montan-Union berührt werden, soweit die Staaten ihre Hoheitsrechte nicht übertragen haben.

So hat der Ministerrat eine Verbindungs- und Vermittler­rolle. Er steht im Schnittpunkt zweier Souveränitäten, einer supranationalen und einer nationalen. Er muss den Interessen der Gemeinschaft in gleicher Weise gerecht werden wie den Interessen der einzelnen Staaten und einen Ausgleich finden, der beiden das Ihre zuteil werden lässt. Er muss, wie der Ver­trag sagt, die beiderseitigen Interessen harmonisieren. Ihm ist damit als Organ eine Aufgabe gestellt, die als Problem vor jedem steht, der um die Einigung Europas bemüht ist. Denn diese Einigung kann nicht darin bestehen, einen europäischen Zentralismus zu schauen. Sie muss sich, wie der Vertrag über die Verteidigungsgemeinschaft sagt, auf föderativer oder konföderativer Grundlage vollziehen, oder sie wird sich überhaupt nicht vollziehen. Sie muss gleichermaßen der Vielfältigkeit und der Besonderheit der Einzelstaaten, die sich aus der geschicht­lichen Vergangenheit ergibt, Rechnung tragen, wie der einheitlichen Zusammenfassung, die als Forderung der Zukunft ge­bieterisch an uns herantritt.

Das Werk, das wir unternommen haben, ist. ein kühnes Werk. Die Entwicklung der Nationalstaaten seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat das Gemeinschaftsgefühl der Nationalstaaten nicht gefördert. Wenn auch der Ministerrat die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten zu wahren hat, so wird er sich doch davor zu hüten haben, diese Aufgabe als seine vordringliche zu betrachten. Seine vordringliche Aufgabe wird vielmehr die För­derung der Interessen der Gemeinschaft sein, ohne die diese sich nicht entwickeln kann. Er wird deshalb weiter in großzügiger Weise dem supranationalen Gebilde der Gemeinschaft, der Hohen Behörde, die Freiheit der Entwicklung lassen und unter Umständen schaffen müssen, deren dieses Organ bedarf.

Es wird nicht leicht sein, die Lösung zu finden. Aber ich ver­traue mit Sicherheit, dass es uns gelingen wird. Die großen Kräfte des Zeitalters tragen uns, und was in der kurzen Zeit seit Inkrafttreten des Vertrages über die Montangemeinschaft geschehen ist, bestärkt uns in unserer Hoffnung.

Mit aufrichtigem Dank vergegenwärtigen wir uns die mühe­volle Arbeit aller derer, die an der Schaffung des Vertrages beteiligt waren, vergegenwärtigen wir uns die kühne Kon­zeption der französischen Regierung des Herrn Außenministers Schuman und des jetzigen Präsidenten der Hohen Behörde, Herrn Monnet, als sie mit dem Plan der Schaffung dieser Union an die europäischen Länder herantraten.

Schon seit dem ersten Zusammentreten der Hohen Behörde lässt sich in ihrer Arbeit ein wahrhaft europäischer Geist er­kennen. Wir haben auch mit Dank und Genugtuung aus der Errichtung der britischen Mission und der Errichtung der Mis­sion der Vereinigten Staaten bei der Hohen Behörde gesehen, dass diese mächtigen Produktionsländer in gemeinsamer Arbeit mit der Montan-Union deren Zweck und Ziele zu fördern bereit sind. Die Zusammenarbeit, die wir aus der Errichtung dieser Missionen erhoffen, wird die jetzt schon so große Be­deutung der Montan-Union noch um ein Beträchtliches erhöhen, die Wirtschaft eines sehr erheblichen Teiles der Erde entwickeln und damit zum Wohlstand und zum politischen Einvernehmen in segensreicher Weise beitragen.

Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl trägt den Namen „Europäische" Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass sie nach der Hoffnung der Gründer­staaten nicht auf diese beschränkt bleiben soll. Wir vertrauen auf die Macht der Entwicklung. Aus dem Bereich der Kon­struktion und der Planung ist die Montan-Union nunmehr her­ausgetreten, das Werk selbst, das supranationale Werk hat begonnen. Wir vertrauen darauf, dass die Kraft der Tatsachen die Entwicklung bringt und vorwärtstreibt, sei es in dieser, sei es in jener Form. Wir hoffen auf die Kraft der Entwicklung noch in einem anderen Sinne. Es ist sehr viel geplant und ge­sprochen worden über die Schaffung Europas. In der Zeit des nationalstaatlichen Denkens war das ein fast verwegener Ge­danke, und manchen erschien er utopistisch, wenngleich er die Notwendigkeit, Europa zu schaffen, nicht verkannte.

Nunmehr ist der erste Schritt vom Planen in die Wirklichkeit getan. Wie wir zuversichtlich hoffen, beginnt damit für unseren Erdteil eine neue Epoche, eine Epoche des Friedens, der Ein­tracht und eines neuen Wohlstandes. Es ist eine große Per­spektive, die sich vor unserem geistigen Auge eröffnet, und ich bin überzeugt, dass auch hier wieder mancher zu sehr rückwärts Schauende skeptisch in die Zukunft blickt. Nun, allen Zweiflern sollte das Zustandekommen, das Ins-Leben-Treten der Montan-Union, die Paraphierung des Vertrages über die Euro­päische Verteidigungsgemeinschaft und der damit zusammen­hängenden Verträge, den Mut und die Zuversicht geben, dass Europa geschaffen werden wird. Ich hoffe, dass die Beratungen und die Beschlüsse des Ministerrates einen weiteren, und zwar einen erheblichen Fortschritt bringen werden. Im Interesse des Friedens, im Interesse des Fortschritts müssen wir Europa schaffen, und wir werden es schaffen.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 130, 9. September 1952.