9. Mai 1955

Rede in Paris anlässlich der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO

 

Herr Vorsitzender,
Exzellenzen,

die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in den Nordatlantikpakt ist von Ihnen, Herr Vorsitzender, und von den Repräsentanten der Mitgliedstaaten, die das Wort ergriffen haben, als ein Ereignis von geschichtlicher Tragweite begrüßt worden. Ich danke Ihnen aufrichtig für die Worte des Willkommens, die Sie an die Bundesregierung und an das ganze deutsche Volk gerichtet haben. Alle Ihre Worte waren von der Bedeutung der Stunde und des Ereignisses geprägt. Sie werden verstehen, daß mich dieser Augenblick mit tiefer Bewegung erfüllt.

Die Nordatlantikorganisation ist eine Gemeinschaft freier Nationen, die ihre Entschlossenheit bekundet haben, das gemeinsame Erbe der abendländischen Kultur, die persönliche Freiheit und die Herrschaft des Rechts zu verteidigen.

Angesichts der zunehmenden Bedrohung durch die kommunistisch regierten Staaten des Ostblocks war die Nordatlantikorganisation ihrer Zielsetzung entsprechend gezwungen, eine militärische Streitmacht zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung für die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten und letzten Endes zur Erhaltung des Weltfriedens aufzubauen.

Die Ziele der Nordatlantikorganisation, insbesondere ihre rein defensive Aufgabenstellung, entsprechen angesichts der politischen Spannungen in der Welt vollständig den natürlichen Interessen des deutschen Volkes, das sich nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege wie kaum ein anderes Volk nach Sicherheit und Frieden sehnt.

Das deutsche Volk hat die Untaten, die von einer verblendeten Führung in seinem Namen begangen wurden, mit unendlichen Leiden bezahlt. In diesen Leiden hat sich seine Läuterung und Wandlung vollzogen. Freiheit und Frieden werden - davon darf die Welt überzeugt sein - heute in Deutschland, wie in den besten Zeiten seiner Geschichte, in allen Schichten und Ständen als das höchste Gut empfunden.

Ich sehe in der Verwirklichung der Verträge, die die Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten der freien Welt beschlossen hat, ich sehe in dem Eintritt der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt einen Ausdruck der Notwendigkeit, den engen Nationalismus zu überwinden, der in den vergangenen Jahrzehnten die Wurzel unseres Unglücks war. Wir müssen den gesellschaftlichen Fortschritt der technischen Entwicklung anpassen, um die durch diese Entwicklung freigewordenen Kräfte in eine Ordnung einzufügen und ihnen ihre zerstörende Wirkung zu nehmen. Deshalb kann die Organisation einer gemeinsamen Verteidigung nur eines der Ziele des Nordatlantikpaktes sein. Ich halte es deshalb für eine der wichtigsten Bestimmungen des Nordatlantikpaktes, wenn in Präambel und Artikel 2 des Vertrags zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt der Völker und zur Bewahrung ihres gemeinsamen Kulturerbes zu einer Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und kulturellen Fragen aufgefordert wird.

Seien Sie versichert, daß es ein besonderes Anliegen der Bundesregierung sein wird, auf diesen Gebieten mit aller Kraft mitzuwirken.

Die Bundesregierung ist entschlossen, gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten für Frieden und Freiheit einzutreten. Ich weiß, daß das ganze deutsche Volk so fühlt und denkt, auch jene 18 Millionen, denen immer noch versagt ist, sich frei auszusprechen und über ihr Schicksal frei zu bestimmen.

Ich danke im Namen der Bundesregierung und im Namen des deutschen Volkes den im Atlantikrat vereinigten Mächten dafür, daß sie Deutschland auf den Weg in die Gemeinschaft der freien Nationen geleitet haben und daß sie mit uns zusammen sich zum Ziel gesetzt haben, Deutschland in Freiheit und Frieden wieder zu vereinigen.

Deutschland wird in der Gemeinschaft der freien Völker ein fähiger und zuverlässiger Partner sein. In dieser Gemeinschaft wollen wir alle unsere Kräfte darauf verwenden, daß die menschliche Freiheit und die menschliche Würde erhalten bleiben. Diese hohen Ziele werden Deutschland leiten, wenn es von nun an daran geht, zusammen mit den hier vertretenen Völkern seine Verantwortung für die Erhaltung des Friedens in der Welt zu übernehmen. 

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 87, 10. Mai 1955, S.717. Abgedruckt in: Konrad Adenauer: „Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung.“ Reden und Gespräche 1946-1967. Hg. von Felix Becker. Köln-Weimar-Wien 1998, S. 97-99.