9. Mai 1960

Rundfunkansprache zum zehnten Jahrestag des Schuman-Plans

Vor zehn Jahren trat Robert Schuman mit dem Plan vor die Öffentlichkeit, die Gesamtheit der Kohle- und Stahlproduktion in Frankreich und Deutschland unter einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde zusammenzulegen und eine Organisation zu schaffen, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offenstehen sollte.

Mein Freund Schuman hat mir später selbst gesagt, dass ihn bei diesem Vorschlage in allererster Linie die politischen Gründe geleitet hätten, zwischen Frankreich und Deutschland auf die Dauer ein friedliches Verhältnis zu begründen. In jener Zeit hielt man es für undenkbar, dass ein Krieg ausbrechen könnte, ein Krieg begonnen werden könnte, ohne dass die Stahlproduktion erheblich davon von vornherein bei den Vorbereitungen beeinflusst würde. Daher der Gedanke Robert Schumans, beiden Ländern Sicherheit zu geben, dass sie von dem anderen Lande keinen Angriff zu gegenwärtigen hätten.

Ich habe seinen Vorschlag mit überzeugtem Herzen sofort aufgegriffen und war glücklich darüber. Dieser Vorschlag entsprach meinen Vorstellungen, die ich seit langen Jahren gehegt habe, meinen Vorstellungen, dass zwischen Frankreich und Deutschland ein gutes, nachbarliches, wenn möglich freundschaftliches Verhältnis geschaffen werden müsste, wenn in Europa kein Krieg mehr ausbrechen sollte.

Der Vorschlag Schumans war für das ganze freie Europa aber eine politische Tat von entscheidender und zukunftsbestimmender Bedeutung. In seiner geschichtlich gewordenen Erklärung sagte er: "Europa wird durch konkrete Maßnahmen entstehen, die eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird."

Mit seinem Vorschlag zog der damalige französische Außenminister Schuman die Schlussfolgerungen aus dem Verlauf der europäischen Geschichte nicht nur zwischen den beiden Weltkriegen, sondern der europäischen Geschichte seit Jahrhunderten.

Aber auch nach den beiden Weltkriegen wussten die europäischen Völker bereits, dass europäische Kriege sinnlos geworden waren und in Zukunft alle Züge eines grauenvollen Bruderkrieges tragen würden. Obwohl aber diese Überzeugung von den Besten in allen Völkern geteilt wurde, waren die Bemühungen zum Scheitern verurteilt, weil es nicht gelang, durch geeignete Zusammenschlüsse eine derart enge Verflechtung der Interessen und Tätigkeiten zu schaffen, dass kriegerische Auseinandersetzungen unmöglich wurden.

Ich habe eben schon erwähnt, dass ich schon seit langer Zeit einen solchen Zusammenschluss auf irgendeinem Gebiete, der die beiden Industrien, die Industrien beider Länder miteinander verband, gewünscht und ersehnt habe. Der erste Versuch war im Jahre 1925. Er misslang. Nach dem zweiten Weltkrieg hatten aber alle in Deutschland begriffen, dass Europa seine Sicherheit nur gemeinsam finden, seine Freiheit nur gemeinsam verteidigen und nur als Ganzes in der Welt von heute einen Platz finden könnte, der seinem geistigen Rang angemessen sein würde.

Sie haben, meine Damen und Herren, die Entwicklung und fortschreitende Verwirklichung der Gedanken Robert Schumans miterlebt. Neben der Montan-Union erwuchsen EURATOM und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, erwuchs das sich ständig verstärkende Zusammengehörigkeitsgefühl der freien europäischen Völker.

Auf dieses, sich ständig verstärkende Zusammengehörigkeitsgefühl der freien europäischen Völker lege ich den allergrößten Wert, denn es ist stärker als irgendwelche unterschriebenen Verträge. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, namentlich der jungen Generation, überall und zwischen den europäischen Völkern insgesamt zu stärken, ist eine der vornehmsten Pflichten unserer Zeit.

Es war vom ersten Tage an klar, dass ein derartig kühnes Werk nicht zu verwirklichen war, ohne dass Schwierigkeiten auch größeren Ausmaßes und vielleicht auch Rückschläge eintreten würden. Die Beharrlichkeit und die Leidenschaft aber, mit der eine Gruppe europäischer Staatsmänner in Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und der Bundesrepublik sich für die große Idee eingesetzt hat, führte zum Ziel.

Das vornehmste Ergebnis ist die deutsch-französische Solidarität, die heute ein Eck- und Grundpfeiler der europäischen Politik überhaupt bildet.

Robert Schumans Plan gehörte zu den wenigen Initiativen, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die Geschichte Europas neu formt und uns allen die Hoffnung, ja die Gewissheit einer besseren Zukunft gegeben haben.

Ich halte es dennoch für meine Pflicht, auch am heutigen Tage mit allem Ernst zu sagen, dass noch viel zu tun übrig bleibt, wenn Europa seine Freiheit behaupten und seine Einheit finden will. Aber wir können doch mit Zuversicht kommenden Zeiten entgegensehen, weil die Idee des europäischen Zusammenschlusses inzwischen Wirklichkeit geworden ist.

So begrüßen wir Robert Schuman am heutigen Tage, an dem Jahrestage, da er seine Botschaft an die Völker richtete, mit aufrichtigem Dank in herzlicher Freundschaft. Wir danken ihm für seine kühne Initiative, die er damals ergriffen hat, deren Kühnheit viele von den Heutigen vielleicht nicht recht begreifen. Und doch war es eine kühne und eine große Tat, die er vollführt hat.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 87 vom 10. Mai 1960, S. 853.