9. September 1959

Wachsam bleiben wie bisher!

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Die zehnte Wiederkehr jener Tage, in denen die Bundesrepublik repräsentativ in Erscheinung getreten ist, darf die Bürger unseres jungen Staatswesens wie auch die Staatsführung mit Genugtuung erfüllen. Es ist innen- wie außenpolitisch weit mehr erreicht worden, als die meisten für das erste Jahrzehnt zu erhoffen gewagt haben. Niemand wird bestreiten, dass eine solche Entwicklung aus der Staatenlosigkeit und aus dem durch den Krieg verursachten wirtschaftlichen Chaos undenkbar wäre, wenn nicht eine erfolgreiche Politik die nötigen Voraussetzungen geschaffen hätte. In mehreren Wahlen hat die Bevölkerung ihr wachsendes Vertrauen in unsere Politik in wahrhaft freier demokratischer Weise dokumentarisch bestätigt. Aber alle Bemühungen der in die höchste Verantwortung Berufenen wären vergeblich gewesen, wenn nicht Tüchtigkeit und Fleiß unseres Volkes die Voraussetzung für ihre Arbeit geschaffen hätten.

Die im ersten Regierungsprogramm ausgesprochenen Ziele sind weitgehend erreicht worden: Beseitigung aller Formen der Zwangswirtschaft und Entwicklung einer Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, energische Förderung des Wohnungsbaus, Wahrung einer stabilen Währungspolitik, Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, Förderung des sozialen Ausgleichs, Eingliederung der Heimatvertriebenen und der durch Kriegsfolgen geschädigten Personen. Außenpolitisch haben wir viel für die Verwirklichung der europäischen Zusammenarbeit getan, der deutsch-französische Gegensatz wurde beseitigt und die Saarfrage konnte geklärt werden. Nicht zuletzt sind wir in die Gemeinschaft der freien Völker aufgenommen worden.

Wesentlich ist es, dass wir uns nicht nur materiell festigen konnten. In dem westlich des Eisernen Vorhangs lebenden Teil unseres Volkes konnte sich die Achtung vor den demokratischen Grundrechten tief verwurzeln, auch in unserer Jugend. Sicher war dabei von nicht geringem Einfluss, dass wir tagtäglich miterleben mussten, wie in der Sowjetzone Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und Elternrecht missachtet werden.

Leider liegt über unseren Aufbauerfolgen noch ein bedrückender Schatten: alle Bemühungen um die Wiedervereinigung unseres Volkes in Frieden und Freiheit haben uns noch keinen Schritt vorwärtsgebracht. Dagegen haben wir bei den Regierungen und Völkern des Westens Verständnis und Hilfsbereitschaft gefunden. So ist es selbstverständlich, dass unsere Politik immer mehr in das Bündnis mit dem Westen hineingewachsen ist. Nur so konnten wir einen ausreichenden Schutz gegen Störungen aus dem Osten finden.

Über die vom Kommunismus ausgehende Gefahr gibt es heute so wenig Zweifel wie vor zehn Jahren. Und für die Abwehr des Bolschewismus gibt es für uns wie für alle freien Völker nach wie vor zwei Notwendigkeiten. Einmal Beteiligung am westlichen Verteidigungsbündnis. Für uns - das ist nach dem ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik festzustellen - bleibt es eine selbstverständliche Aufgabe, im Rahmen der NATO unseren Verteidigungsbeitrag ungeschmälert zu leisten. Die zweite, nicht gering zu achtende Voraussetzung, den Bolschewismus fernzuhalten, besteht darin, das eigene Volk durch Aufklärung über das Wesen des Kommunismus und durch fortschrittliches soziales Verhalten gegen die bolschewistische Ideologie immun zu machen.

Wir zögern nicht, anzuerkennen, dass der Geist der europäischen Zusammenarbeit uns geholfen hat, manche böse Hinterlassenschaft der Vergangenheit zu überwinden. Wir können aber auch mit Genugtuung vermerken, dass die Bevölkerung Westdeutschlands für den Kommunismus nicht anfällig geworden ist. Die Wahlergebnisse während der ersten zehn Jahre haben dafür sehr deutliche Beweise gebracht. Wir haben auch gezeigt, dass uns Demokratie nicht lediglich ein Lippenbekenntnis ist, denn wir haben in unserem jungen Staat jeden Radikalismus von rechts und links energisch bekämpft. Gerade weil unsere politischen und wirtschaftlichen Erfolge so groß und die Fundamente für die erstrebten sozialen Fortschritte so fest sind, sind wir alle verpflichtet, so wachsam wie bisher zu bleiben.

 

Quelle: Saarbrücker Landeszeitung vom 9. September 1959.