Anfang 1964

Über die Rolle des griechisch-lateinischen Geisteserbes in der Bildungsgesellschaft von morgen

Von Bundeskanzler a. D. Dr. Konrad Adenauer


Ich fühle mich und meine Weltanschauung geprägt von den beiden großen Komponenten der abendländischen Kultur, dem Christentum und dem Humanismus der griechisch-römischen Antike. Von der letzteren soll hier die Rede sein. Keime des Schöpferischen liegen in allen Völkern, aber nie und nirgends haben sie so stark die Gesamtheit allen menschlichen Daseins bestimmt, wie es durch die Griechen geschehen ist. Das Geniale an ihnen war, daß sie mit unbeirrbarer Sicherheit das Wesentliche, deren Kernpunkt, die reine Idee gefunden haben. Alle unsere geistigen Betrachtungen, die Philosophie, die Wissenschaft, die Kunst, die Dichtung, der Begriff des Rechtes und Gesetzes, die Formen der Staatsverbände, die Gestaltung der Gemeinde, die Regelung der Erziehung, ja auch die Mathematik und die Naturwissenschaften, leiten sich von den Griechen her.

Diese stürmische Schöpferkraft innerhalb weniger Generationen und Jahrhunderte vor der Zeitenwende war ein solcher Kulminationspunkt der Menschheit und von so großer Auswirkung, wie er sich seitdem nicht wiederholt hat. Die ganze Fülle heutiger Erkenntnis geht in den Wurzeln auf diese Errungenschaften zurück. Das heutige Abendland ist ohne das Erbe der Antike kaum vorstellbar.

Aus diesen Worten ist zu entnehmen, daß ich dem klassischen Erbe eine ganz besondere und entscheidende Bedeutung beimesse. Wenn sich heute so vieles ins Chaotische entwickelt und der Sinn für das Harmonische schwindet, so dürfte eine Ursache unter anderem darin liegen, daß jene in den Geburtszeiten des Abendlandes konzipierten Gedanken im Bewußtsein der Menschen im Vergehen zu sein scheinen.

Das alte Gymnasium, jene Schulart, in der ich groß geworden bin, war noch in der Lage, etwas vom klassischen Erbe uns einzuprägen. Die Akropolis in Athen und das Kapitol in Rom waren für uns geistige Sinnbilder für Freiheit und Ordnung. Das Recht des Individuums, die Würde des Menschen, die Idee der Gerechtigkeit, der Sinn für das Maß, das Verständnis für Kosmos im Sinne einer geistig erfüllten Ordnung, die angstvolle Scheu vor dem Chaos, die Vertrautheit mit dem Kairos (das Notwendige zur rechten Zeit zu tun, auf die richtige Stunde warten zu können, diese dann aber auch richtig zu ergreifen) sind Ideen, die mir so vermittelt wurden und denen ich sehr Wesentliches meiner Ausprägung verdanke.

Wer diese Bildung und Erziehung aus klassischer Zeit Ballast nennt, läßt nur erkennen, daß er von der Klassik nichts weiß. Doch meinem Wissen nach werten gerade die bedeutendsten modernen Naturwissenschaftler die durch den antiken Geist geformte Disziplin des Denkens heute höher denn je.

Ich habe die an mich gestellte Frage sehr persönlich beantwortet; so möchte ich sie auch gewertet wissen; aktuelle Gegenwartsbeziehungen zu Schulsystemen und Erziehungsformen will ich bei diesen Ausführungen unberücksichtigt lassen. Ich jedenfalls stehe zu meinem oft bekundeten Bekenntnis, daß gerade die Ausbildung und Erziehung, wie wir sie auf dem humanistischen Gymnasium genossen haben, auch im Zeitalter der fortgeschrittenen Technik eine absolute Notwendigkeit ist und bleiben wird.

 

Quelle: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur, 19. Jg. (1964), S. 11. Abgedruckt in: Adenauer. Die letzten Lebensjahre 1963-1967. Briefe und Aufzeichnungen, Gespräche, Interviews und Reden (Rhöndorfer Ausgabe). Bd. I: Oktober 1963 - September 1965. Hg. von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz. Bearb. von Hans Peter Mensing. Paderborn 2009, S. 103f.