1927

Artikel „Großstadt" von Konrad Adenauer im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft

Großstadt

I. Grundsätzliches. II. Statistik. III. Das G.-problem. IV. Reform der G. 1. Die organisatorisch-techn. Aufgabe. 2. Die soziale Aufgabe. 3. Die kulturelle Aufgabe.*

I. Grundsätzliches.

Das Entstehen zahlreicher G.e ist die notwendige Folge der Zunahme der Bevöl­kerung und der wirtschaftl. Entwicklung zweier in gegenseitiger Wechselwirkung stehender Faktoren. Ohne ausgedehnte Industrie und Handel können in Deutsch­land nicht über 60 Mill. Menschen leben, dafür ist seine Fläche zu klein, sein Boden zu arm, sein Klima zu schlecht. Industrie und Handel verlangen aber zu ihrem Gedeihen eine Reihe größerer Konzentrationspunkte: so sind die G.e ent­standen, und sie werden auch in Zukunft weiter bestehen müssen. Die G.e sind aber nicht nur eine wirtschaftl. Notwendigkeit, sie sind auch in vieler Hinsicht Bahnbrecher des Fortschritts für das ganze Land, weil sich auf gewissen Gebie­ten nur Fortschritte erzielen lassen durch die Zusammenfassung der gewaltigen, in einer G. vereinigten wirtschaftlichen und geistigen Kräfte. Anderseits liegen die Schäden der G.e in ihrer heutigen Gestalt für das körperliche und für das see­lisch-geistige Leben zunächst ihrer Bewohner klar zu Tage. Die Zusammenballung so großer Menschenmassen auf engem Raum reißt den Menschen los von dem in seinem innersten Wesen begründeten notwendigen Zusammenhang mit der Natur, sie schädigt ihn dadurch körperlich und geistig auf das Schwerste. Die nahe Berührung, in der die Menschen in der G. leben müssen, steigert die Ansteckungsgefahr für körperliche und geistige Erkrankungen außerordentlich.

Die „Großstadtfrage" ist aber nicht allein eine Frage der G.bewohner, sie ist von größter Bedeutung für das ganze Volk, auch soweit es in Mittel- und Kleinstädten und auf dem flachen Lande wohnt. Abgesehen davon, dass über ein Viertel aller Deutschen in G.en wohnen und es daher den übrigen drei Vierteln unter keinen Umständen gleichgültig sein kann, was aus dem einen Viertel wird, ist auch der Einfluss der G. im guten wie im schlechten Sinn auf die Mittel- und Kleinstädte und auf das flache Land so groß, dass sich niemand ihm entziehen kann. Die üble G.kultur mit ihren geistigen und seelischen Verfallserscheinungen breitet sich in einer Zeit, in der die Verkehrsmittel, Zeitungen und Kinos bis in das kleinste Dorf dringen, auf das ganze Volk aus. Die Reform der G. ist, das kann nicht oft genug betont werden, nicht nur Sache der G.bewohner selbst, sie ist eine Angelegenheit des ganzen Volks und nicht zuletzt auch des flachen Landes. Das flache Land darf aber nicht glauben, sich anders vor dem schlechten Einfluss der G. schützen zu können als durch Mitarbeit an ihrer Reform.

Die Richtung, in der die Reform der G. sich zu bewegen hat, ist leicht erkennbar, wenn man die Wurzel der Schäden sich klar macht und sich weiter von der Anschau­ung loslöst, als wenn der heutige Typ der G. zu ihrem Wesen gehöre. Die von uns nicht zeitig genug beeinflusste Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass wir mit dem Begriff G. das Bild eines großen Häusermeeres, eines Steinhaufens, hier und da durchbrochen von spärlichen, künstlichen Grünanlagen, verbinden. Eine G. kann aber ihre wirtschaftl. und ihre sonstigen Funktionen genau so gut erfüllen, wenn sie nicht diese übermäßig konzentrierte Form hat. Warum soll nicht dieselbe Anzahl Menschen, die heute in einem solchen Häusermeer wohnt, ebenso gut, nam. bei der Vervollkommnung unserer Verkehrsmittel, ihrer wirtschaftlichen und sonstigen Tätigkeit nachgehen können, wenn an Stelle dieses geschlossenen Häusermeers sich um einen geschäftlichen Kern und einzelne Industrieviertel in das Grün der Natur gebettete Siedlungen von 10 bis 20.000 Einw. herumlegen? Warum soll der Großstädter ein Höhlenbewohner sein, in dessen Mauern Sonnenaufgang und Son­nenuntergang, der weite Horizont des Himmels, das Sternenmeer, das Wachsen, Blühen und Welken der Natur, der Erdgeruch nicht mehr zu sehen, zu spüren ist! - Diese große dezentralisierte Menschenansiedlung kann nicht aus verschiedenen verwaltungsmäßig selbständigen Gemeinwesen bestehen, weil nur ihre Zusammen­fassung in einer einzigen Gemeinde eine organische Verwaltung und Entwicklung und die Lösung der großen Aufgaben gewährleistet.

Man gebe vor allem der G. die Möglichkeit zu einer möglichst großen räumlichen Entwicklung. Es ist ganz falsch und eine Verkennung der Interessen der kleineren Gemeinden und insbes. auch des flachen Landes, um jeden Quadratmeter Raum mit der G. zu feilschen und den Versuch zu machen, sie in engen örtlichen Grenzen zu halten. Gerade das Gegenteil ist richtig. Man sorge vor allem auch dafür, dass dauernd landwirtschaftlich genutzter Grundbesitz in größerem Umfang mitten in der aufge­lockerten G. liegt, damit eben der G.bewohner wieder eine wirkliche Verbindung mit der Natur und dem Erdboden bekommt, die ihm öffentl. Anlagen und Sportplätze doch nur in geringem Umfang zu geben vermögen. Man sorge auch dafür, dass durch eine verständige Bodenpolitik den G.en die Möglichkeit einer solchen Dezentralisa­tion gegeben wird und bleibt. Es würde falsch sein, den Boden der G. vollständig in eine Hand zu bringen; gesundes privatwirtschaftl. Leben, auch auf dem Gebiet des Wohnungsbaues und des Grundstücksmarkts, ist nötig. Aber das öffentl. Interesse, soziale und sittl. Gesichtspunkte verlangen gebieterisch, dass das Privateigentum an Grund und Boden sich den höheren Zielen unterordnen muss.

Es handelt sich hier um Fragen von größter Bedeutung, nam. auch in ethischer Beziehung. Die G.e werden bleiben. Bleiben sie krank, so werden sie den ganzen Volkskörper vergiften; hilft man ihnen, wieder gesund zu werden, so dient man damit dem ganzen Volk!

* Adenauer verfasste nur den Abschnitt I. „Grundsätzliches", die Abschnitte II-IV stammen von V. Cramer.

 

Quelle: Staatslexikon, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. von Hermann Sacher, 5. Aufl., Bd. 2 (Freiburg i. B. 1927), Spalte 912 ff. Abgedruckt in: Konrad Adenauer 1917-1933. Dokumente aus den Kölner Jahren. Hrsg. v. Günther Schulz. Köln 2007, S. 113-115.