Der weise Entschluß, sich von Zeit zu Zeit einige Wochen der Erholung zu gönnen, verbunden mit einem Orts- und Klimawechsel, hat entschieden dazu beigetragen, die erstaunliche geistige und körperliche Frische Konrad Adenauers zu erhalten. Seit Jahren verbrachte er diese Tage der Entspannung - die zwar keineswegs arbeitslose Tage waren - an den Ufern des Comer Sees in Italien, in Cadenabbia, wo er ein von der Bevölkerung des kleinen Ortes gerngesehener und verehrter Gast war.
Das Haus liegt etwa einhundert Meter höher als der Seespiegel, wodurch man von den Terrassen eine herrliche Aussicht über Lecco bis halbwegs nach Como hat, im Hintergrund bei klarer Sicht die Engadiner Hochalpen.
Als wir - Graham Sutherland und ich - zur ersten Sitzung nach Cadenabbia kamen im September 1963, herrschte in der Villa La Collina schon Abschiedsstimmung. Es war der letzte Urlaub des Bundeskanzlers vor seinem Rücktritt, und politische Gespräche sowie Interviews waren an der Tagesordnung.
Obgleich das sonst milde und sonnige Septemberwetter, das die oberitalienischen Seen zu einem Ferienparadies macht, dieses Jahr völlig versagte, fanden die Porträt-Sitzungen im Freien statt, auf einer gedeckten Terrasse. Wie gewöhnlich machte Sutherland zuerst einige Bleistiftskizzen, dann malte er eine Ölskizze des Kopfes und der allgemeinen Situation.
Adenauer war ein vorzügliches Modell, das seine Position leicht, ohne sichtbare Anstrengung, und gerne für eine halbe bis dreiviertel Stunde beibehielt, trotz einer lebhaft geführten Unterhaltung, wobei der Kanzler es liebte, seine politische Überzeugung einem Engländer auseinanderzusetzen: etwas verbittert über England - enttäuscht über Macmillan - aber fest für de Gaulle. Da der Kanzler kein Englisch sprach und Sutherland kein Deutsch, mußten entweder ich oder seine Sekretärin Dr. Anneliese Poppinga dolmetschen.
Während der neun Sitzungstage ging das Gespräch hin und her, von Politik zur Kunst; auch über moderne Kunst wurde gesprochen. Als Diplomat verstand Adenauer es, seine Ansicht - oft zum Erstaunen seiner Partner - den Erfordernissen des Tages anzupassen und zu wandeln. Über Kunst hatte er jedoch seine festen und fixierten Begriffe. Der modernen Kunst stand er absolut fremd gegenüber, ja, er wollte nicht einmal von Cézanne und den Impressionisten viel wissen. Für ihn hörte die Kunst sozusagen mit Delacroix auf. Aber zu den alten Meistern hatte er eine sehr große Liebe und besaß eine Sammlung alter Bilder, von denen er gerne erzählte: Primitive der Kölner Schule; Tizian, Greco, Velasquez, darunter ein Porträt von Papst Paul III. von Tizian, der diesen mehrere Male gemalt hatte, und Adenauer meinte, daß er das beste Bild besitze.
Als ich Dr. Adenauer gegenüber mein Buch „8 Europäische Künstler“ erwähnte, wollte er wissen, welche diese acht Künstler seien. „Braque, Chagall, Le Corbusier, Léger, Matisse, Moore, Picasso und Sutherland“, erwiderte ich, worauf er fragte: „Dann müssen Sie doch völlig davon überzeugt sein, daß alle diese große Künstler sind - nicht wahr?“
Natürlich bejahte ich diese Frage ohne Einschränkung, und Adenauer meinte: „Picasso kann ich nicht ernst nehmen, er lacht doch über uns und die Welt, die ihn ernst nimmt. Ich jedenfalls begreife seine Kunst nicht, und ebenso wenig die eines Chagall. Überhaupt, die moderne Malerei, und vor allem auch die Architektur unserer Zeit, hat mit Kunst nichts mehr zu tun“, wobei der berühmte Zeigefinger seiner rechten Hand diesen Äußerungen Nachdruck verlieh.
Am Sonntag war Kirchgang, zur Dorfkirche von Cadenabbia, an dem auch Sutherland und ich teilnahmen.
Als der bekannte schwarze Mercedes vorfuhr, machte die Dorfbevölkerung dem alten Herrn ehrerbietig Platz, ohne ihn zu belästigen. Er genoß in Cadenabbia großes Ansehen, er wurde gefeiert, und eines Abends brannte man zu seinen Ehren ein grandioses Feuerwerk an den märchenhaft illuminierten Ufern des Comer Sees ab.
Als die Woche sich dem Ende zuneigte, hätte Adenauer gerne einmal gesehen, was Sutherland gemalt hatte, aber Sutherland zeigt seine Studien und Skizzen prinzipiell niemals seinem „Sitter“, um von dessen Urteil nicht beeinflußt zu werden. Lediglich Mrs. Sutherland darf sie sehen, da sie, wie er sagte, „sein bester und schärfster Kritiker ist“. Dr. Adenauer schlug deshalb vor, Mrs. Sutherland zu den nächsten Sitzungen mitzubringen.
Der Kanzler hatte sich so an diese von angeregter Unterhaltung begleiteten Sitzungen gewöhnt, daß er ohne Protest einwilligte, als aus den ursprünglich geplanten fünf Sitzungen neun oder zehn werden sollten.
Adenauer, damals siebenundachtzigjährig, konnte es getrost noch mit einem Sechzigjährigen aufnehmen, was Arbeitskraft und Frische des Geistes anbelangte. Seine Gedanken, klar geformt und fest ausgesprochen, die Haltung des Körpers ungebeugt mit keinerlei Zeichen des Alters, machten ihn schon äußerlich zu einer erstaunlichen Erscheinung. Seine starke Hand aber, mit der er Deutschland emporführte, machte ihn zu einer Persönlichkeit der Weltgeschichte.
Erst ein und ein halbes Jahr später, ohne eine nochmalige Sitzung, waren die Porträts nach den Skizzen fertig: ein großes repräsentatives Bild - ganze Figur in Lebensgröße - und ein kleineres nach der in Cadenabbia gemalten Ölskizze. In seinem Zimmer im Bundestag wurden die beiden Bilder dem Exkanzler zum ersten Mal im März 1965 gezeigt, in Gegenwart von Baron von Herwarth und dem Kunsthändler Fischer von der Marlborough Gallery in London. Auch ich, als Urheber der ganzen Sache, war zugegen und hielt diesen Augenblick im Bilde fest: Das große Porträt stand auf einem Podest, Adenauer saß gegenüber, es still betrachtend. Kurz danach unterbrach er die allgemeine Stille. „Ja“, sagte er, „die Bilder gefallen mir. Herr Sutherland hat mich als denkenden Menschen gesehen“, er stand auf, ergriff das kleinere Bild, ging damit zum Fenster und betrachtete es lange. Dann wandte er sich an Harry Fischer, den Kunsthändler, der den Verkauf der Porträts übernommen hatte: „Können Sie mir die Bilder nicht ein paar Tage oder besser eine Woche hier lassen? Ich möchte sie gerne meiner Familie, meinen Kindern und Enkeln zeigen - ich habe dreiundzwanzig Enkel -, und sie sollen ihren Großvater als Denkenden sehen.“ Natürlich wurde diese Bitte gewährt - Adenauer hatte versichert, daß sonst niemand die Bilder sehen würde.
Weit über eine Stunde dauerte das Zusammentreffen. Der alte Herr erklärte seinen Besuchern noch die verschiedenen Bilder an den Wänden: ein kleines Bild, das Winston Churchill gemalt und Adenauer geschenkt hatte, hing neben einem echten Eisenhower. In einer Ecke stand eine kostbare gotische Madonna. Auf dem Schreibtisch war im Silberrahmen eine große Photographie von de Gaulle mit Widmung. Von Zeit zu Zeit kehrte der Kanzler immer wieder betrachtend zu Sutherlands Porträts zurück.
Beim Abschied lud er mich ein, wenn ich das nächste Mal nach Köln käme, ihn doch in Rhöndorf zu besuchen, um seine Sammlung anzusehen. Heute bedaure ich sehr, daß es nie dazu gekommen ist, zumal Adenauer diese Einladung noch schriftlich wiederholt hatte.
Quelle: Sutherland und Adenauer in Cadenabbia. Prospekt der Sutherland-Ausstellung in der Konrad-Adenauer-Stiftung 1978. - Abgedruckt in: Konrad Adenauer in Cadenabbia. Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung hg. von Günter Buchstab. 2. Aufl. Bad Honnef-Rhöndorf 2001, S. 21-25.