Rhöndorfer Ausgabe Online

11. Juni 1946 (Rhöndorf)

An Georg Stephan, Zentralleitung der Schenker-Organisation für die britische Zone

, Hamburg

StBKAH 08.21


Sehr geehrter Herr Stephan!

Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief vom 31.5.46 mit Einlage1. Ihre Auffassung teile ich völlig, wenngleich man öffentlich noch nicht aussprechen darf, daß der Osten bis auf weiteres verloren sei, solange noch eine, wenn auch kleine Hoffnung besteht, ihn zu erhalten. Auch ich bin der Auffassung, daß die Aufgabe des westlichen Deutschlands einmal sein wird, mit friedlichen Mitteln den Osten wiederzugewinnen und zu kolonisieren2.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr sehr ergebener
(Adenauer)


  1. ^

    Anlass für dieses Schreiben: eine am 29.5.1946 vor geladenen Gästen in Hamburg gehaltene Rede Adenauers und darüber erschienene Presseberichte: »Im außenpolitischen Teil seiner Kundgebung plädierte Adenauer für eine organische Lösung der Grenzfrage im Westen und Osten, die den Nachbarstaaten die gewünschte Sicherheit gebe, ohne Deutschland zu töten« (›Hamburger Allgemeine‹ vom 31.5.1946, S. 1).

  2. ^

    Die Notlage in den polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten, die zu dieser Auffassung Anlass gegeben hatte, wurde von Adenauer in mehreren Reden dieses Zeitraums dargelegt, so z. B. am 12.5.1946 in Düsseldorf: »Wie hat sich nun diese polnische Verwaltung von Gebieten, die seit mehr als 6, 7, 800 Jahren deutsch sind, ausgewirkt? Hören wir, was ein Schweizer, Robert Jung[k], schreibt: ›Hinter der Oder-Neiße-Linie beginnt das Land ohne Sicherheit, das Land ohne Gesetz, das Land der Vogelfreien, das Totenland … Wer die polnische Zone verläßt und in russisch besetztes Gebiet kommt, atmet geradezu auf. Hinter ihm liegen leergeplünderte Städte, Pestdörfer, Konzentrationslager, öde, unbestellte Felder, leichenbesäte Straßen …‹ … Das Land, das so geschildert wird, liegt mitten in Europa … Dieses Land ist für die Ernährung des deutschen Volkes von entscheidender Bedeutung. Dieses Land versteppt, verödet, nichts wächst mehr dort. Hier sind die Menschen zusammengepreßt, und die Alliierten müssen uns mit Nahrungsmitteln versorgen, die auf jenem versteppten Land wachsen könnten … Aber es wird ja doch einmal eine Friedenskonferenz kommen, und dann werden sich hoffentlich die Alliierten dieser Zustände erinnern, daß im Potsdamer Abkommen dieses Land Polen nur zur Verwaltung übergeben worden ist. Wenn der Verwalter eines Gutes derartig mit dem Gut verfährt, wie das Polen getan hat, dann müssen die Auftraggeber diesem ungetreuen Verwalter das Gut wieder entziehen« (StBKAH 02.03). Eine ähnliche Passage findet sich bereits in der am 5.5.1946 in Wuppertal gehaltenen Rede; hier auch nähere Hinweise auf den zitierten Artikel (›Aus einem Totenland‹) des Publizisten Robert Jungk (1913-1994), der von der Zürcher ›Weltwoche‹ (Jg. 13, Nr. 527) erstmals veröffentlicht und Anfang 1946 von der ›Stuttgarter Rundschau‹ und dem ›Hochlandboten‹ nachgedruckt worden war.