Rhöndorfer Ausgabe Online

23. Februar 1946 (Rhöndorf)

An Pastor Bernhard Custodis

, Bonn

StBKAH 07.01


Lieber Custodis1!

Von der Mutter Werhahn erhielt ich den anliegenden Artikel des Paters Pribila mit der Bitte um Beurteilung. Da ich die Adresse des Paters Pribila nicht habe und die Mutter Werhahn mir mitteilte, daß sie den Artikel durch Dich bekommen habe, sende ich ihn anbei mit der Bitte zurück, ihn an Pater Pribila zurückgelangen zu lassen2.

Ich würde den Artikel nicht erscheinen lassen. Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. Richtig ist, daß nachher vielleicht nicht viel mehr zu machen war. Die Schuld liegt früher. Das deutsche Volk, auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil, sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung auf all den in dem Aufsatz gekennzeichneten Gebieten gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld. Im übrigen hat man aber auch gewußt – wenn man auch die Vorgänge in den Lagern nicht in ihrem ganzen Ausmaße gekannt hat –, daß die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze, mit Füßen getreten wurden, daß in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden, daß die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Rußland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit. Die Geiselmorde in Frankreich wurden von uns offiziell bekannt gegeben. Man kann also wirklich nicht behaupten, daß die Öffentlichkeit nicht gewußt habe, daß die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das Naturrecht, gegen die Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen. Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung3. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder in Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das kein Schade, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen und darum schweigt man am besten. Ich weiß bestimmt, daß der verstorbene Papst mit meinem Urteil genau übereinstimmte. Wie der jetzige Papst denkt, weiß ich nicht.

Vielen Dank für die Beförderung und herzliche Grüße
Dein

‹Jedenfalls würde der nicht dem Nationalsozialismus direkt verfallene Teil des Deutschen Volkes, insbesondere auch die kath. Kirche in Deutschland, vor dem Ausland und insbesondere vor der Nachwelt gerechtfertigter dastehen, als es jetzt der Fall sein wird.›


  1. ^

    Pfarrer Custodis wird von Eduard Spoelgen erwähnt (Aus Bonns jüngster Vergangenheit, S. 419).

  2. ^

    Mit »Pribila« wahrscheinlich gemeint: Pater Max Pribilla S.J., dessen 1947 vom Verlag Josef Knecht, Frankfurt/Main veröffentlichte Schrift ›Deutschland nach dem Zusammenbruch‹ inhaltlich (nach einer kurzen Besprechung von Walter Dirks in: ›Frankfurter Hefte‹ H. 6 [1948], S. 580) an den von Adenauer nachfolgenden erörterten Artikel anzuknüpfen scheint.

  3. ^

    Zur Kritik Adenauers am »nahezu völligen Rückzug der katholischen Geistlichen aus der aktiven Politik« vgl. Rudolf Morsey, Konrad Adenauer und die Gründung, S. 15.
    Die hier pointiert auf den Klerus bezogene Kritik ist im Zusammenhang allgemeiner gehaltener öffentlicher Äußerungen Adenauers über Schuldfrage und geschichtliche Verantwortung »des gesamten deutschen Volkes« für den Nationalsozialismus zu sehen. Adenauer in seiner Kölner Universitätsrede vom 24.3.1946: »Aber der Nationalsozialismus hätte in Deutschland nicht zur Macht kommen können, wenn er nicht in breiten Schichten der Bevölkerung vorbereitetes Land für seine Giftsaat gefunden hätte«; vgl. Adenauer-Reden, S. 84f. sowie (in Anlehnung an diese Rede) Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, S. 43 f.; vgl. auch die Ausführungen zur »Last der deutschen Vergangenheit«, in der Nachkriegsanalyse Adenauers bei Anneliese Poppinga, Geschichtsverständnis, S. 99-104.

  4. ^

    ‹ › ms. Zusatz ohne Zeichen der Zuordnung zu einer Briefpassage.