Rhöndorfer Ausgabe Online
An Reichsminister a.D. Hans Schlange-Schöningen
, LütjenburgStBKAH 08.57, Abschrift an Karl Scharnagl, Wilhelm Heile und Georg Strickrodt; Druck: Konrad Adenauer. Seine Zeit – sein Werk, S. 136-138.
Sehr geehrter Herr Schlange-Schöningen1!
Am 26.1.46 bat ich Sie telegraphisch, die Drucklegung der Broschüre, die Sie mir am 24.1.46 in Herford freundlichst übergaben, zurückzustellen2. Ich darf Ihnen in folgendem die Gründe meiner Bitte darlegen.
1. An zwei Stellen, in den Rundschreiben 1 und 2, wird das alte Zentrum »ultramontan« genannt3. Von jeher wurde diese Bezeichnung von den Mitgliedern der früheren Zentrumspartei als beleidigend empfunden. Ich bin überzeugt davon, daß es Ihnen völlig ferngelegen hat, irgend jemanden durch den Gebrauch dieses Wortes zu kränken, aber es dürfte wohl richtig sein, den Gebrauch dieses Wortes ganz zu vermeiden.
2. Im Rundschreiben Nr.1 heißt es: »Wir können der Sozialdemokratie nur aufrichtig wünschen, daß es ihr gelingen möge, in klarer Frontstellung gegen die Kommunisten die große, bejahende Arbeiterpartei zu werden, etwa wie England sie in der Labourpartei besitzt.« Dieser an die SPD gerichtete Wunsch verkennt m. E. völlig, daß die CDU mindestens mit demselben Recht die Handarbeiter zu ihren Mitgliedern zählt und zählen muß wie die SPD. Auch die Gleichstellung der SPD mit der Labourpartei ist nicht zutreffend. Soweit ein Vergleich zwischen Parteien verschiedener Länder möglich ist, glaube ich, daß hinsichtlich Wählerschaft und Abgeordneten der Labourpartei eine Parallele zwischen ihr und der CDU viel eher gezogen werden kann als zwischen ihr und der SPD. – Die Veröffentlichung und Verbreitung dieser im Rundschreiben Nr.1 ausgesprochenen Ansichten wird – das glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können – in den breitesten Schichten der CDU schärfsten Widerspruch hervorrufen.
3. An mehreren Stellen in allen Rundschreiben ist von der christlich-demokratischen Aufbaupartei, dann von der Union die Rede als von einer »Rechts«partei. Das ist m. E. nicht richtig. Ich fürchte auch hier sehr scharfen Widerspruch von breitesten Schichten der CDU, wenn von so angesehenen Männern wie Sie eine derartige Anschauung über das Wesen der CDU verbreitet wird. »Rechtspartei« und »Linkspartei« sind relative Begriffe, die man zweckmäßiger Weise m. E. überhaupt gegenüber jeder Partei vermeidet, bis ein festes Gefüge mehrerer Parteien entstanden ist. Wir wissen aber gar nicht, welche Parteien sich noch in Deutschland bilden werden, noch, wie sie stehen werden. Die Bezeichnung »Rechts« »Links« oder die Worte »alle Kreise rechts von der Sozialdemokratie« geben m. E. ein unzutreffendes Bild von unserer Partei. Sie verleiten den, der von früher her mit den Worten »Rechts« »Links« eine bestimmte Vorstellung verbindet, sich eine falsche Vorstellung von unserer Partei zu machen, auf sie würde, wenn man frühere Bezeichnungen überhaupt gebrauchen will, noch am ehesten das Wort »Mitte«. zutreffen. – Wir werden in der nächsten Sitzung des Zonenausschusses ein Parteiprogramm feststellen. Nach diesem Programm wollen wir arbeiten, nach diesem Programm und nach unserer Arbeit sollen uns die Wähler beurteilen.
[4.] In Ihren Rundschreiben wird der Gedanke, alle rechts von der Sozialdemokratie Stehenden zu sammeln, der Sammlungsgedanke, an verschiedenen Stellen stark unterstrichen. Es könnte daraus der Eindruck entstehen, daß der Sammlungsgedanke unser Leitgedanke sei. Wir dürfen aber m. E. keine Sammelpartei sein, sondern wir müssen eine Partei sein mit eigenem, neuen Programm. Auf »Sammlung« als Fundament läßt sich keine neue Partei aufbauen, weil »Sammlung« nichts in die Zukunft Weisendes ist.
Eine neue Partei wie die unsrige entwickelt erst im Verlaufe einer gewissen Zeit die ihr zu Grunde liegenden Ideen zu festen und klar umrissenen Programmsätzen. Zu diesem Abschluß unserer Entwicklung kommen wir hoffentlich auf der Tagung des Zonenausschusses Ende Februar. Dann werden manche im Stadium der Entstehung der Partei gemachten Ausführungen als nicht zutreffend oder als überholt erscheinen. Bitte prüfen Sie, ob sich unter diesem Gesichtspunkt die neue Verbreitung Ihrer Rundschreiben empfiehlt, ob nicht nach Feststellung des Parteiprogramms ein neues, dies Programm behandelndes Rundschreiben zweckmäßiger ist.
Sollten Sie in wesentlichen Punkten mit meinen vorstehenden Ausführungen nicht einverstanden sein, so haben Sie die Freundlichkeit, mir Ihre Gegenargumente so bald mitzuteilen, daß ich mein heutiges Schreiben und Ihre Antwort den übrigen Mitgliedern des Zonenausschusses zwecks Vorbereitung der Diskussion baldigst mitteilen kann.
Meine vorstehenden Ausführungen habe ich zu meiner Selbstkontrolle mehreren, mir erreichbaren, hervorragenden Mitgliedern unserer Partei aus beiden Confessionen und den verschiedensten Ständen vorgetragen und bei ihnen uneingeschränkte Zustimmung gefunden.
Mit hochachtungsvollen Grüßen bin ich
Ihr sehr ergebener
Zur zentralen Bedeutung Schlange-Schöningens für konservativ-protestantische Unionskreise nach 1945 zahlreiche Angaben bei Hans Georg Wieck, Die Entstehung; zu den vielfältigen verantwortlichen Funktionen in der Ernährungspolitik der Nachkriegsjahre vgl. die von ihm selbst herausgegebene, von seinem Mitarbeiter Justus Rohrbach bearbeitete Darstellung ›Im Schatten des Hungers‹.
Schlange-Schöningen hatte als Vertreter Schleswig-Holsteins an der CDU-Zonenausschuss-Tagung in Herford teilgenommen. Zu den bereits dort ausgesprochenen Bedenken Adenauers gegen die politischen Bestrebungen Schlange-Schöningens vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, S. 56f.
Von den im nachfolgenden erörterten Rundschreiben Schlange-Schöningens (vom 31.10., 4.12., 10.12. und 25.12.1945) sind Exemplare in StBKAH 08.57 erhalten, ergänzend dazu auch der »Entwurf zu einem Vorwort für die Broschüre ›Christliche Demokratie‹«, die Schlange-Schöningen nunmehr auf der Grundlage dieser Rundschreiben vorbereitete. Hinweise auf die Rundschreiben bei Hans Georg Wieck, Die Entstehung, S. 159-163 und Werner Abelshauser, Zur Entstehung der »Magnet-Theorie« in der Deutschlandpolitik. Ein Bericht von Hans Schlange-Schöningen über einen Staatsbesuch in Thüringen im Mai 1946, in: VfZ Jg. 27 (1979), S. 662f.
Zum Begriff des ›Ultramontanismus‹ (einem traditionsreichen Vorwurf der Romhörigkeit) vgl. Karl Buchheim, Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963 sowie Heribert Raab, Zur Geschichte und Bedeutung des Schlagwortes ›Ultramontan‹ im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch Bd. 81 (1962), S. 159-173.