Rhöndorfer Ausgabe Online

31. Oktober 1945

Anlage zum Schreiben an Weitz: »Meine Einstellung zur außenpolitischen Lage«

 

StBKAH 07.03, o.D., Datierung nach dem Begleitschreiben; Druck: Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, S. 39f.; Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, S. 425; Teildruck: Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 425; Walter Lipgens, Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik, S. 239


Rußland hat in Händen: die östliche Hälfte Deutschlands, Polen, den Balkan, anscheinend Ungarn, einen Teil Österreichs.

Rußland entzieht sich immer mehr der Zusammenarbeit mit den andern Großmächten und schaltet in den von ihm beherrschten Gebieten völlig nach eignem Gutdünken. In den von ihm beherrschten Ländern herrschen schon jetzt ganz andere wirtschaftliche und politische Grundsätze als in dem übrigen Teil Europas.

Damit ist eine Trennung in Osteuropa, das russische Gebiet, und Westeuropa eine Tatsache.
In Westeuropa sind die führenden Großmächte England und Frankreich. Der nicht von Rußland besetzte Teil Deutschlands ist ein integrierender Teil Westeuropas. Wenn er krank bleibt, wird das von schwersten Folgen für ganz Westeuropa, auch für England und Frankreich sein. Es liegt im eigensten Interesse nicht nur des nicht von Rußland besetzten Teiles Deutschlands, sondern auch von England und Frankreich, Westeuropa unter ihrer Führung zusammenzuschließen, den nicht russisch besetzten Teil Deutschlands politisch und wirtschaftlich zu beruhigen und wieder gesund zu machen.

Eine Lostrennung Rheinlands und Westfalens von Deutschland dient diesem Zwecke nicht, sie würde das Gegenteil herbeiführen. Man würde eine östliche politische Orientierung des nichtrussisch besetzten Teiles Deutschlands herbeiführen.

Dem Verlangen Frankreichs und Belgiens nach Sicherheit kann auf die Dauer nur durch wirtschaftliche Verflechtung von Westdeutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland wirklich Genüge geschehen. Wenn England sich entschließen würde, auch an dieser wirtschaftlichen Verflechtung teilzunehmen, so würde man dem doch so wünschenswerten Endziele 'Union der westeuropäischen Staaten' ein sehr großes Stück näherkommen.

Zum staatsrechtlichen Gefüge des nicht von Rußland besetzten Teiles Deutschlands: Ein vernünftiges staatsrechtliches Gefüge besteht zur Zeit überhaupt nicht, es muß wiederhergestellt werden. Die Schaffung eines zentralisierten Einheitsstaates wird nicht möglich, auch nicht wünschenswert sein, der staatsrechtliche Zusammenhang kann lockerer sein als früher, etwa in der Form eines bundesstaatlichen Verhältnisses.


  1. ^

    Das von Adenauer selbst in den Erinnerungen verwendete einseitige ms. Manuskript skizziert wie »nicht viele Dokumente aus dem Jahre 1945 … das Konzept der späteren Bonner Außenpolitik … knapp und vollständig zugleich« (Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 426); zur Verwendung und Auswertung des Dokuments in der Adenauer-Literatur vgl. zusätzlich zu den angegebenen Titeln: Werner Conze, Jakob Kaiser, S. 34 ; Wilhard Grünewald, Die Münchener Ministerpräsidentenkonferenz, S. 21; Johann B. Gradl, Adenauer und Berlin, S. 347; Andreas Hillgruber, Adenauer und die Stalin-Note, in: Konrad Adenauer und seine Zeit Bd. 2, S. 123.