Rhöndorfer Ausgabe Online
An die Militär-Regierung (Detachment E1 H2)
, KölnHAStK Acc. 2, A 331a, ohne Anrede und Schlussformel, mit hs. korrigierten Entwürfen
Im Anschluß an mein Schreiben vom 4. Juni führe ich noch folgendes aus:
1) Aufbau der Verwaltung in Preußen bis zum Jahre 19331.
(in den anderen Staaten des Deutschen Reiches bestand eine andere Organisation).
Es gab in der Stufenfolge von unten nach oben
Stadtkreise/Landkreise
Regierungsbezirke
Oberpräsidien
Ministerien.
An der Spitze der Städte (Stadtkreise) stand ein Oberbürgermeister, des Landkreises ein Landrat, des Regierungsbezirks ein Regierungspräsident, des Oberpräsidiums ein Oberpräsident. An der Spitze der Ministerien stand ein Minister. Diese Minister waren zusammengefaßt in Staatsministerien. An seiner Spitze stand der Ministerpräsident.
Der Oberbürgermeister war ein Selbstverwaltungsbeamter, d. h. er wurde nicht von irgendeiner staatlichen Stelle ernannt, sondern von der Stadtverordnetenversammlung auf 12 Jahre gewählt. Die Wahl bedurfte der Bestätigung durch das Staatsministerium. Für die Verwaltung der Städte war maßgebend die Städte-Ordnung. Es gab verschiedene Städte-Ordnungen. Für die rheinischen Städte galt die Rheinische Städte-Ordnung von 1856. Die Mitglieder der Stadtverordneten-Versammlung wurden in geheimer, gleicher und direkter Wahl gewählt. Der Oberbürgermeister war Vorsitzender der Stadtverordneten-Versammlung und in bestimmten, im Gesetz (Rheinische Städte-Ordnung) genau bezeichneten Fällen an die Zustimmung der Mehrheit der Stadtverordneten-Versammlung gebunden. Er unterstand einer genau begrenzten Aufsicht der Staatsregierung. Entscheidungen in Personalorganisationen oder -verfügungen konnte der Oberbürgermeister unabhängig von irgendeiner staatlichen Instanz treffen. - Der Landrat war sowohl Staatsbeamter wie Selbstverwaltungsbeamter, d. h. er hatte sowohl staatliche Aufgaben zu erfüllen wie Selbstverwaltungsaufgaben. Soweit er als Staatsbeamter tätig war, hatte er den Anweisungen des Regierungspräsidenten zu folgen; soweit er Selbstverwaltungsaufgaben erfüllte, unterlag er dessen Aufsicht. Ihm zur Seite stand ein gewählter Kreistag, der in gewissem Umfang eine Parallele zu den Stadtverordnetenversammlungen in den Städten war.
In jeder Provinz bestand außerdem eine Provinzialverwaltung als Selbstverwaltung. Der Aufbau war hier folgender: Ein Provinziallandtag wurde in jeder Provinz für vier Jahre in gleicher, geheimer und direkter Wahl gewählt. Der Provinziallandtag wählte einen Provinzialausschuß und den Vorsitzenden des Provinzialausschusses. An der Spitze des Beamtenkörpers der Provinzialverwaltung stand der Landeshauptmann, der ebenfalls vom Provinziallandtag gewählt wurde. Die oberste Verwaltungsinstanz der Provinzialverwaltung war der Provinzialausschuß.
In jedem Regierungsbezirk bestand ein Bezirksausschuß, beim Oberpräsidenten ein Provinzialrat. Die Mitglieder dieser Körperschaften, die bei bestimmten Funktionen des Regierungspräsidenten oder des Oberpräsidenten mitzuwirken hatten, wurden vom Provinzialausschuß gewählt.
2) Beabsichtigte Reform.
Vor 1933 war in Preußen eine Reform der inneren Verwaltung beabsichtigt. Man wollte die Verwaltung vereinfachen und verbilligen und ferner den großen Städten eine größere Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit geben. Zwei Meinungen standen einander gegenüber:
Nach der einen Meinung sollten die Regierungsbezirke und Regierungspräsidenten aufgehoben werden, die Oberpräsidien, die bis dahin verhältnismäßig auf wenigen Gebieten Verwaltungsangelegenheiten zu
erledigen und mehr repräsentativen Charakter gehabt hatten, sollten einen gewissen Ausbau erhalten. Die bis dahin von den Regierungen erledigten Geschäfte sollten zum größeren Teile den großen Städten zur freien Verwaltung überlassen werden. Soweit diese Verwaltungsgeschäfte Landkreise betrafen, sollten sie den Oberpräsidien übertragen werden. Die andere Meinung ging dahin, daß man die Oberpräsidien
aufheben und die von ihnen bis dahin erledigten Geschäfte den Regierungen übertragen solle. Auch nach dieser Meinung sollte aber den großen Städten eine größere Bewegungsfreiheit zugestanden werden, als sie bisher hatten. Der vom Preußischen Staatsministerium zur Bearbeitung der Frage der inneren Verwaltungsreform eingesetzte Kommissar, Staatsminister Drews, nahm in dem von ihm erstatteten Gutachten Stellung dahin, daß die Kompetenz der Städte stark erweitert, die Regierungsbezirke aufgehoben und die Oberpräsidien ausgebaut werden sollten.
3) Entwicklung von 1933 bis zur Besetzung Deutschlands.
Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde auch im Gebiet der inneren Verwaltung das nationalsozialistische Führerprinzip durchgeführt. Alle Wahlen der oben genannten Selbstverwaltungskörperschaften wurden beseitigt. Man schuf für einen Teil von ihnen einen Scheinersatz durch Körperschaften, deren Mitglieder ernannt wurden. Die Provinzialverwaltung - provinzielle Selbstverwaltung - wurde aufgehoben bezw. dem Oberpräsidenten, der abhängiger Staatsbeamter blieb, übertragen. Die Rechte der Oberbürgermeister in den Städten wurden durch ihre Unterstellung unter den Gauleiter fast völlig beseitigt.
4) Die dortige Anordnung vom 30. Mai betr. Regierungsbezirk Government schafft einen Zustand, der dem Regierungspräsidenten im großen und ganzen die Rechte des Gauleiters überträgt und der die städtische Selbstverwaltung gegenüber den staatlichen Behörden auf einen Stand herunterdrückt, der unter dem Grade der Freiheit der Selbstverwaltung liegt, der zur Zeit des absoluten Königtums in Preußen, also vor 1848, liegt. Wenn auch über den Aufbau, die Gliederung und den Sachbereich des für den Rheinprovinz-Militärdistrikt eingesetzten Oberpräsidenten keine amtlichen Nachrichten vorliegen, so sprechen doch viele Anzeichen dafür, daß dort die gleiche Tendenz der Zurückdrängung der Selbstverwaltung vorliegt. Mir scheint, daß dieser Aufbau der staatlichen Verwaltung durchaus von nationalsozialistischen Gedanken und dem Führerprinzip durchzogen ist.
5) Mit der Idee der Demokratie ist das nicht vereinbar. Man muß m. E. im Gegenteil die Selbstverwaltung stärken und ausbauen, vor allem auch allmählich wieder zur Beteiligung der Bürgerschaft an der Verwaltung übergehen. Da zunächst keine Wahlen möglich sein werden, muß man m. E. die Beteiligung der Bürgerschaft, so bald wie möglich, in einer den Zeitumständen angepaßten Form ermöglichen.
Ich bitte, die Bedeutung der Frage: Erweiterung oder Beschränkung der Selbstverwaltung nicht zu unterschätzen. Ich messe ihr eine solche Bedeutung bei, daß ich nicht glaube, daß, ‹falls eine Beschränkung der Selbstverwaltung eintritt›2, ein wirklich verantwortungsbewußter, demokratisch gesinnter Mann die Leitung einer Stadt noch übernehmen wird. Ich jedenfalls, der ich immer ein Vorkämpfer der Selbstverwaltung und des demokratischen Gedankens in Deutschland gewesen bin und darum in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft sehr verfolgt worden bin, würde es mit meiner Überzeugung nicht vereinbaren können, falls Beschränkungen der Selbstverwaltung wirklich beabsichtigt sind, das Amt des Oberbürgermeisters einer Stadt zu führen. Ich darf in diesem Zusammenhange feststellen, daß Col. Patterson, als ich auf sein Zureden mich dazu verstanden haben, das Amt wieder zu übernehmen, mir ausdrücklich zugesichert hat, daß ich das Recht haben solle, jederzeit das Amt wieder niederzulegen3.
Ich erlaube mir, noch folgendes auf Grund der Erfahrungen und der Einblicke, die ich seit Übernahme des Amtes gehabt habe, auszuführen: Ich verkenne keineswegs die Schuld des deutschen Volkes an dem
Unglück, das über es selbst und die ganze Welt gekommen ist. Auch nach meiner Meinung ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß jede Schuld ihre Sühne findet. Ich verkenne ferner nicht, daß die Lage für die Besatzungsmächte ganz außerordentlich schwierig ist, und bin mir bewußt, daß in den wenigen Wochen, die seit der Beendigung des Krieges verstrichen sind, die Tätigkeit der Besatzungsmächte im Hinblick auf die Verwaltung Deutschlands nicht groß genug sein konnte. Es beginnt aber nun mit dem Zusammentritt der Kontrollkommission in Berlin ein neuer Abschnitt in der Besetzung Deutschlands. Im Hinblick hierauf darf ich ausführen, daß schon in der allernächsten Zukunft wesentliche Änderungen eintreten müssen, insbesondere, was die Ingangsetzung des Verkehrs - Eisenbahn, Post, Telefon - und eine wenigstens vorläufige Regelung der Währungsfrage betrifft. Ohne Ingangsetzung des Verkehrs und ohne eine, wenn auch vorläufige, Regelung der Währungsfrage - beides ist ohne die Besatzungsmächte nicht möglich - ist eine Ankurbelung der Wirtschaft und damit Wiedergewöhnung des deutschen Volkes an Arbeit nicht möglich. Ebenso scheint es mir unmöglich, an der Forderung, daß das deutsche Volk sich selbst ernähren müsse, für die Zukunft festzuhalten. Es würden dadurch Verhältnisse geschaffen werden, wie sie leider unter der Herrschaft des eben deshalb von der Weltöffentlichkeit verdammten Nationalsozialismus in manchen Ländern bestanden haben. Ich fürchte, daß durch das völlige Daniederliegen der Wirtschaft und den Hunger, zu dem in wenigen Monaten auch die Kälte treten wird, Entwicklungen heraufbeschworen werden, die ich für das deutsche Volk für verderblich, aber auch für seine europäischen Nachbarn für sehr schädlich halte.
Ich wäre der Militär-Regierung Köln dankbar, wenn sie diese meine Ausführungen auch den übergeordneten Stellen der Militär-Regierung zur Kenntnis bringen würde.
A
Zu diesem Fragenkomplex ausführliche Hinweise auf historischen Hintergrund (die Traditionen der preußisch-deutschen Selbstverwaltung) und wissenschaftliche Literatur bei Wolfgang Rudzio, Die Neuordnung, S. 14-26; vgl. auch die Einführung ›Die Entwicklung des modernen Gemeindeverfassungsrechts in Deutschland‹, in: Christian Engeli/Wolfgang Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, Bd. 45 der Schriften des Deutschen Instituts für Urbanistik, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1975; hierin der vollständige Text der im nachfolgenden von Adenauer erörterten Städteordnung für die Rheinprovinz vom 15.5.1856 (S. 396-421) sowie der vollständige Text der – von Adenauer ebenfalls einbezogenen – Deutschen Gemeindeordnung vom 30.1.1935 (S. 676-698).
‹ › hs. von Adenauer in den Entwurf eingefügt.
Hierzu, unter Hinweis auf diesen Brief, Heribert Treig, Britische Besatzungspolitik, S. 78; vgl. auch Werner Bornheim gen. Schilling, Der rheinische Phönix T. 2, S. 111.