Rhöndorfer Ausgabe Online
An Oberbürgermeister Dr. Karl Scharnagl
, MünchenStBKAH 07.03
Lieber Herr Scharnagl!
Zuerst wünsche ich Ihnen von Herzen Glück zu den Erfolgen der CSU in Bayern1. Sie haben damit der brit. Zone ein sehr gutes Beispiel gegeben und wie ich sicher annehme, manchen Schwankenden und Zögernden auf seinen richtigen Weg gebracht. Das Beispiel Bayerns ist auch insofern sehr gut, als die Bayerische Volkspartei sich in die CSU eingeordnet hat. Leider sind wir noch nicht so weit. Sie werden wissen, daß der Ihnen wahrscheinlich von früher her bekannte Dr. Hamacher – er war bis 33 General-Sekretär der Rheinischen Zentrums-Partei– das Zentrum wieder ins Leben gerufen hat. Herr Hamacher ist selbst ein lauterer Charakter, aber sehr starrköpfig. Ich bin überzeugt, daß es nicht zu diesem Schritt gekommen wäre, wenn man ihn rechtzeitig bei den vorbereitenden Arbeiten zur Gründung der CDU zugezogen hätte. Die Erfolge Hamachers in Rheinland und Westfalen sind nicht groß, aber es ist zu befürchten, daß bei den Wahlen, die im Juni 46 sein werden2, falls es bis dahin nicht gelingt, die Uneinigkeit aus der Welt zu schaffen, viele Wähler überhaupt nicht wählen werden, die sonst zu uns gehören. Ich bemühe mich persönlich sehr um Beilegung der Angelegenheit. In der Zwischenzeit war ich, ob ich wollte oder nicht, genötigt, den Vorsitz im Zonenausschuß der CDU für die brit. Zone zu übernehmen und ebenfalls mußte ich vorgestern die Wahl zum Vorsitzenden der Landespartei Rhein-Provinz annehmen.
Ich versuche, nun zunächst ein Programm aufzustellen und zur Annahme zu bringen3. Ich bin der Auffassung, daß wir als neue Partei so schnell wie möglich ein Programm haben müssen, aus dem die Leute sehen, was wir wollen. Wir haben im Zonenausschuß für die brit. Zone einen Programmausschuß gewählt, der sich mit meinem Entwurf beschäftigt. Ich füge Ihnen den Entwurf eines Programms bei und bemerke ausdrücklich, daß es sich um einen Entwurf, der von mir stammt, handelt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Ansicht vom Standpunkt der CSU aus dazu baldmöglichst mitteilen würden. Eine offizielle Stellungnahme der CSU kommt natürlich nicht in Frage. Es genügt mir, wenn Sie mir sagen könnten, gestützt auf die Kenntnis der Verhältnisse innerhalb Ihrer Partei in Bayern, ob ein derartiges Programm – natürlich evtl. mit einigen nicht zu starken Abweichungen – mit den Ansichten Ihrer maßgebenden Parteifreunde übereinstimmt. Ich denke mir die Weiterentwicklung dann folgendermaßen:
Der britische Zonenausschuß würde ein Programm genehmigen. In der Zwischenzeit wird sich ein amerikanischer Zonenausschuß gebildet haben, der ist, wie ich höre, ja bereits in der Bildung begriffen. Wir würden dann mit diesem Programm an den amerikanischen Zonenausschuß herantreten, und sobald in der französischen Zone politische Tätigkeit gestattet ist, uns auch mit unseren dortigen Freunden in Verbindung setzen. Man würde dann in einem Reichstreffen versuchen, dem zwischen Ihrem Zonenausschuß und dem unserigen vereinbarten Programm zur Annahme zu verhelfen.
Vor kurzem war Fräulein Sevenich, Darmstadt, bei mir. Ich habe ihr von dem Entwurf Kenntnis gegeben. Er fand ihre Zustimmung. Ich habe bei dem Entwurf vor allem Wert darauf gelegt, das weltanschauliche Fundament klarzustellen und in den einzelnen Grundsätzen und Forderungen die sich aus diesen fundamentalen Anschauungen ergebenden Folgerungen zu ziehen.
Zu diesem Reichstreffen noch folgendes:
Hier im Westen war vor kurzer Zeit Herr Hermes, nachdem er längere Zeit im Süden gewesen ist. Wie ich höre, will er für Ende März ein Reichstreffen nach Heidelberg einberufen. Er hat damit Zustimmung in Süddeutschland gefunden. Dazu möchte ich vertraulich folgendes bemerken: Unsere Berliner Freunde haben sich »Reichsleitung der CDU« genannt. Wir haben dem nicht widersprochen, um nicht durch diesen Widerspruch die Autorität unserer Freunde im russisch besetzten Gebiet zu beeinträchtigen. Wir haben aber diese sogenannte Reichsleitung nicht anerkannt und werden sie auch nicht anerkennen.
Zunächst liegen die Verhältnisse im russisch besetzten Gebiet so, daß niemand sich von einer dort residierenden Stelle irgendwie abhängig machen kann, weil diese Stelle unter einem Druck steht, der sie unter Umständen zu Schritten zwingt, die man außerhalb der russischen Zone nicht will. Es kommt hinzu, daß wir unter allen Umständen erstreben müssen, das politische Schwergewicht Deutschlands, das so lange in Berlin gelegen hat, von Berlin fortzuverlegen, selbst wenn Berlin nicht vom Russen besetzt wäre. Endlich glaube ich, daß eine wirkliche Reichsleitung erst geschaffen werden kann, wenn in den Zonen allgemein Wahlen stattgefunden haben, die erkennen lassen, wie stark die Partei in den verschiedenen Landesteilen ist, und damit einen Maßstab geben für die Zahl der den von Landesteilen in das Reichstreffen zu entsendenden Persönlichkeiten. Bei dem sogenannten Reichstreffen in Godesberg handelte es sich um eine doch ziemlich willkürlich zusammengesetzte Versammlung. Eine Abstimmung hätte in ihr niemals den wirklichen Willen der Wählerschaft erkennen lassen. Wir sind darum der Auffassung, daß ein solches Reichstreffen erst nach den Wahlen in der brit. Zone, die Mitte Juni sein werden, stattfinden sollte. Ob vorher in einem kleineren Kreis aus den verschiedenen Zonen Aussprache über bestimmte Punkte erwünscht ist, ist eine andere Frage. Ihre Ansicht auch über diesen Fragenkomplex wäre mir sehr wertvoll.
Ich füge Ihnen endlich noch bei Abschrift eines Briefes, den ich an den früheren Reichsminister Schlange-Schöningen gerichtet habe. Der Brief hat auf der gestrigen Sitzung des Landesvorstandes der Rheinprovinz einhellig Zustimmung gefunden, insbesondere auch von evangelischer Seite. Ich habe von Herrn Schlange-Schöningen bisher eine Antwort nicht erhalten. Wir sind aber hier in der Rheinprovinz entschlossen, wenn es nötig sein sollte, vor einer Absprengung dieser uns zu stark rechts gerichteten und offenbar ganz in der Vergangenheit wurzelnden Teile, die übrigens nicht zahlreich sein dürften, nicht zurückzuschrecken. Ihre Ansicht auch zu diesem Punkte würde mir sehr willkommen sein. Ich hoffe, daß es Ihnen gut geht, und würde mich sehr freuen, bald einmal von Ihnen zu hören.
Mit vielen Grüßen
Ihr
Im Rahmen der zwischen dem 21. und 29.1.1946 durchgeführten Gemeindewahlen in der amerikanisch besetzten Zone hatten am 27.1.1946 in Bayern Wahlen in Gemeinden bis zu 20.000 Einwohnern stattgefunden – die CSU hatte 43,6% der Stimmen erreicht.
Großer Zuversicht vor »den Wahlen im Januar« hatte Scharnagl bereits in einem Schreiben an Adenauer vom 17.12.1945 Ausdruck verliehen. Das hierin erwähnte Bezugsschreiben Adenauers vom 6.12.1945 ist in StBKAH nicht erhalten, doch konnte bereits Walter Berberich (Die historische Entwicklung, S. 168) Auszüge aus diesem programmatisch bedeutungsvollen Brief veröffentlichen, so z. B. die Passage: »Es ist schade, daß gerade die christlich-demokratische oder -soziale Bewegung bei uns in Deutschland so schwer vorankommt, obgleich nach meiner Überzeugung sie im Lande außerordentlich viele Gesinnungsgenossen hat. Natürlich hat eine Partei es zunächst leichter, die lediglich an eine frühere Organisation anzuknüpfen braucht. Wenn man denkt, wie stark auf dem gleichen Boden stehende Parteien in Frankreich, Italien, Holland, Ungarn, Österreich sind, und wenn man weiter bedenkt, wie dadurch wertvolle Beziehungen – wertvoll für Deutschland, wertvoll für Europa –hergestellt werden könnten, so ist das Bedauern doppelt groß«.
Zur langandauernden Ungewissheit erster Nachkriegswahlen in der britischen Zone (erst im September und Oktober 1946 sollten hier Gemeindewahlen stattfinden) vgl. Wolfram Köhler, Schmelztiegel, S. 162f.; Walter Först, Geschichte, S. 56 und Wolfgang Rudzio, Die Neuordnung, S. 58-60. Vgl. auch Anmerkung 2 des Schreibens an Rudolf Amelunxen vom 23.9.1946.
Zur nachfolgenden Briefpassage vgl. Rudolf Uertz, Christentum, S. 75. Der hier erwähnte Programmentwurf, den Adenauer bereits in Herford vorgelegt hatte, ist in einem ms. Exemplar u. a. in LAV NRW, R RWN 0029/1 erhalten, in hs. Entwürfen in StBKAH 08.07. Deren Wortlaut:
»I. Einzelperson und Staat
1. Die Grundsätze christlicher Ethik und Kultur, wahre Demokratie müssen das staatliche Leben tragen und erfüllen. An der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person findet die Macht des Staates ihre Grenzen. 2. Recht auf politische und religiöse Freiheit.
3. Gerechtigkeit, gleiches Recht und Rechtssicherheit für jeden.
4. Anerkennung der grundlegenden Bedeutung der Familie für Volk und Staat.
5. Anerkennung und Schutz der Frau bei ihrer Tätigkeit in Haus und Familie. Freie Betätigung der Frau im beruflichen und öffentlichen Leben.
6. Die Mehrheit hat kein willkürliches und uneingeschränktes Recht gegenüber der Minderheit. Auch die Minderheit hat Rechte und Pflichten.
C. Verhältnis zu anderen Ländern
Das deutsche Volk hat trotz der Untaten des Nationalsozialismus einen Anspruch darauf, nicht allein nach dieser Epoche seiner Geschichte beurteilt zu werden. Außenpolitik wird Deutschland vorerst nur in beschränktem Umfang treiben können. Sein Ziel muß sein, an der friedlichen Zusammenarbeit der Völker in der Vereinigung der Nationen gleichberechtigt teilzunehmen. Die Lasten, die der verlorene Krieg Deutschland gegenüber anderen Ländern auferlegen wird, soll[t]en so bemessen werden, daß Deutschland sie tragen und ihnen gerecht werden kann; denn auch der Besiegte behält das Recht auf Leben und Arbeit. Bitterste Not ohne Hoffnung ist das stärkste Hindernis jeder friedlichen Entwicklung. Auch der Sieger, der im Besitze der Macht ist, hat nach menschlichem und göttlichem Recht Pflichten gegenüber dem Besiegten«; Druck: Konrad Adenauer. Seine Zeit – sein Werk, S. 140.
Zu den in den vorangegangenen Monaten entwickelten programmatischen Vorstellungen Adenauers vgl. Paul Weymar, Adenauer, S. 289; Rudolf Morsey, Der politische Aufstieg, S. 42, 51-55 sowie Rudolf Uertz, Christentum, S. 76-78.