Rhöndorfer Ausgabe Online
[Entnommen aus: Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Briefe 1945-1947. Herausgegeben von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz. Bearbeitet von Hans Peter Mensing, Berlin 1983, S. IX-XII]
Spät erst, dann aber nachhaltig entdeckt die Bundesrepublik Deutschland, dass sie eine eigene Geschichte hat. Entdeckung der eigenen Geschichte — das bedeutet zugleich Wiederentdeckung Konrad Adenauers. Je weiter man sich von der Epoche entfernt, der er seinen Stempel aufgedrückt hat, je bessere Vergleichsmöglichkeiten wir haben, aber auch je schwieriger die Bewältigung der Gegenwart erscheint, umso größer wird die Gestalt des ersten Bundeskanzlers und umso überragender erscheint seine geschichtliche Leistung.
Mehr als jeder andere deutsche Politiker und wie nur wenige vergleichbare ausländische Staatsmänner hat Konrad Adenauer seit der ersten Nachkriegs Periode bis in die frühen sechziger Jahre die Entwicklung Deutschlands beeinflusst. Und auch nach seinem Tode wirkt er nicht nur durch die von ihm geschaffenen Tatsachen fort, sondern auch durch seine grundlegenden politischen Vorstellungen, die in den Kontroversen der Gegenwart weiter lebendig sind.
An zeitgeschichtlichen Untersuchungen, die sich mit Adenauers Politik befassen, besteht kein Mangel. Doch wer sein Denken und Handeln aus Primärquellen kennenlernen will, kann bisher im wesentlichen nur auf die vier Bänder seiner »Erinnerungen« (1965/1968) sowie eine Auswahl seiner Reden von 1917 bis 1967 zurückgreifen. Ziel und Zweck der Reihe »Adenauer — Rhöndorfer Ausgabe« ist es, diese Quellenbasis zu erweitern.
Die am Rhöndorfer Wohnsitz Adenauers gesammelten Dokumente, die jetzt der Öffentlichkeit Zug um Zug zugänglich gemacht werden, vermitteln einen zentralen Einblick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte, die Entstehung der CDU und des westdeutschen Parteiensystems, die Staatsgründung und den Wiederaufbau, die Diplomatiegeschichte und die Innenpolitik der Ära Adenauer. Sie erschließen das politische Werk und die Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers.
Die Voraussetzungen für eine Edition weiterer Dokumente, die tiefere Einblicke in Adenauers Gedanken eröffnen, sind recht günstig. Denn der umfangreiche Nachlass des ersten Bundeskanzlers enthält zahlreiche Materialien aus der Zeit zwischen 1945 und 1967. Bei der Entscheidung, in welcher Reihenfolge sie ediert werden sollen, sind folgende Überlegungen maßgebend gewesen:
Einer breiten Öffentlichkeit und der Forschung sollen bisher weitgehend unveröffentlichte Dokumente zur Kenntnis gebracht werden. Dabei erscheint es vorrangig, den »unbekannten Adenauer« zu Wort kommen zu lassen.
Angesichts der Fülle des Materials spricht vieles dafür, jeweils Quellengruppen zu edieren, die deutliche formale Gemeinsamkeiten aufweisen, wie etwa Briefe, vertrauliche Äußerungen Adenauers in Informationsgesprächen mit Journalisten, interne Stellungnahmen vor wichtigen Parteigremien, Reden und Interviews oder Gespräche mit ausländischen Politikern — um wesentliche Teile des Nachlasses zu nennen.
Mit der Edition sollen vor allem jene zahlreichen interessierten Leser angesprochen werden, die sich durch die Lektüre bisher nicht oder kaum bekannter Adenauer-Quellen ein eigenes Bild machen wollen und sich von einem vertieften Verständnis dieses Politikers geschichtliche Erkenntnis versprechen. Zugleich stellt die Edition für die Wissenschaftler einen Fundus dar, die mit der Geschichte der Bundesrepublik oder speziell der Ära Adenauer befasst sind. Den Bedürfnissen beider Gruppen soll mit der vorliegenden historisch-kritischen Edition gleichermaßen entsprochen werden.
Aus diesen Überlegungen haben sich die Schwerpunkte für die Konzeption und weitere Planung der »Rhöndorfer Ausgabe« ergeben.
Zunächst wird, beginnend mit dem vorliegenden Band, das Briefwerk Adenauers der Jahre 1945 bis Mitte der 50er Jahre ediert. Der zweite Band, der Briefe aus den Jahren 1947 bis 1949 enthält, ist im Manuskript abgeschlossen und erscheint im Frühjahr 1984. Er wird auch die Register zu dem vorliegenden Band sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis enthalten.
Zwei weitere Briefbände über die entscheidenden ersten Jahre der Kanzlerschaft Adenauers sind durch eine erneute Bewilligung von Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk finanziell gesichert und befinden sich in Arbeit. Sie werden zumindest den Zeitraum der ersten Legislaturperiode 1949 bis 1953 umfassen, möglicherweise aber auch noch die Jahre bis zur Erlangung der Souveränität der Bundesrepublik im Mai 1955. Die Bearbeitung der Briefbände besorgt Dr. Hans Peter Mensing.
Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Veröffentlichung der »Teegespräche«, für die Dr. Hanns Jürgen Küsters zuständig ist. Die Edition dieser auf vier Bände geplanten Informationsgespräche, zu denen Konrad Adenauer ausgewählte in- und ausländische Journalisten empfing, wird voraussichtlich nicht nur die Jahre seiner Kanzlerschaft 1949-1963 umfassen, sondern auch die anschließende Zeit bis zu seinem Tode 1967. Der erste Band soll im Herbst 1984 erscheinen.
Bei der Festlegung der Editionsprinzipien haben sich Herausgeber und Bearbeiter davon leiten lassen, wissenschaftlich gesicherte Texte vorzulegen. In Anbetracht des umfangreichen Quellenbestandes ist es unumgänglich, eine Auswahl vorzunehmen. Die Entscheidung zum Abdruck ist allein unter Relevanzkriterien getroffen worden. Aus dem Briefnachlass wie von den »Teegesprächen« werden alle Dokumente aufgenommen, die den Herausgebern und Bearbeitern aufgrund langjähriger Beschäftigung mit der Periode, mit der Persönlichkeit und mit dem Werk Adenauers wichtig zu sein schienen: typisch für die Person, charakteristisch für seine Zeit. Somit wird alles, was für das Verständnis Adenauers und seiner Politik unerlässlich erscheint, unverkürzt wiedergebeben. Der Leser hat zugleich die Möglichkeit, sich in die Nachkriegszeit und Aufbauphase der Bundesrepublik Deutschland hineinzuversetzen und die Äußerungen in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen. Bei diesem Auswahlverfahren wird nur in seltenen Fällen und ausschließlich aus Gründen des Personenschutzes auf die Aufnahme einzelner Briefe und Gespräche verzichtet. Und nur an wenigen, jeweils eigens gekennzeichneten Stellen sind — aus den gleichen Gründen — einzelne Sätze oder Passagen nicht abgedruckt worden.
Obwohl der Nachlass Adenauers in der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus außerordentlich umfangreich ist, konnten aus den Beständen anderer amtlicher und privater Archive Lücken geschlossen werden. Die Bearbeiter waren und sind bemüht, die Korrespondenz Adenauers ebenso wie seine Pressegespräche so vollständig wie möglich zu sammeln, um auf dieser Basis eine Auswahl zu treffen.
Wie in den Kopfregesten des Briefbandes jeweils vermerkt, wurde der Bestand des Rhöndorfer Archivs durch Briefe aus folgenden Archiven ergänzt: Bundesarchiv (Koblenz), Historisches Archiv der Stadt Köln, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf [heute Landesarchiv NRW], Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages (Bonn) [heute Berlin], Stadtarchiv Düsseldorf. Dabei wurden die Bestimmungen über die Behandlung amtlichen Archivguts berücksichtigt.
Wir möchten den genannten Archiven auch unsererseits für ihr Entgegenkommen verbindlich danken. Wenngleich nicht auszuschließen ist, dass früher oder später noch der eine oder andere bisher unbekannte Adenauer-Brief auftaucht, so kann der Leser doch davon ausgehen, dass das heute bekannte Briefwerk für die vorliegende Edition vollständig gesichtet worden ist.
Die bisherigen Arbeiten hätten ohne eine großzügige Starthilfe der Stiftung Volkswagenwerk nicht in Angriff genommen werden können. Auch die Herausgeber sind ihr für die bisherige Unterstützung zu besonderem Dank verpflichtet. Sie hoffen zuversichtlich, dass nach Auslaufen dieser Starthilfe der Bund als Träger der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus die Fortführung der mit diesem Band begonnen Erschließung des Nachlasses sicherstellt.
Die Herausgeber betrachten es als einen Glücksfall, dass sich in Wolf Jobst Siedler ein engagierter Verleger gefunden hat, dem die Ziele dieser Editionsreihe gleicherweise am Herzen liegen und der für die Verwirklichung dieses Konzepts die seinerseits erforderlichen Voraussetzungen geschaffen hat. Er und seine Mitarbeiter sind auf unsere vielfach nicht ganz leicht realisierbaren Wünsche mit großer Aufgeschlossenheit eingegangen.
Die »Rhöndorfer Ausgabe« kann gegenwärtig noch nicht auf einen bestimmten Umfang hin geplant werden. Wieviele Bände zusätzlich zu den zunächst projektierten acht Bänden erscheinen können, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, diese Reihe auch institutionell zu fundieren. Der Adenauer-Nachlass enthält genügend Materialien für weitere Publikationen, die möglichst bald der Öffentlichkeit zugägnlich gemacht werden sollten.
Im August 1983
Rudolf Morsey Hans-Peter Schwarz