Helmut Kohl

* geboren 03.04.1930 in Ludwigshafen
† gestorben 16.06.2017 in Ludwigshafen


Historiker, Ministerpräsident, Bundeskanzler, Dr. phil., Dr. h.c. mult., rk.

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Übersicht

1950Abitur in Ludwigshafen
1950-1958Studium der Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaften in Frankfurt/M. und Heidelberg, dort
1958Promotion
1959-1969Referent beim Industrieverband Chemie
1947CDU, Mitgründer der JU Ludwigshafen
ab 1953Mitglied des CDU-Vorstands der Pfalz
1954-1961stv. JU-Vorsitzender Rheinland-Pfalz
1955-1966Mitglied des CDU-Landesvorstands
1959Vorsitzender des CDU-KV Ludwigshafen
1960-1969Stadtrat und Fraktionschef in Ludwigshafen
1959-1976MdL Rheinland-Pfalz
1961-1963stv. Fraktionsvorsitzender
1963-1969Fraktionsvorsitzender
1963-1967Vorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Pfalz
1966-1974Landesvorsitzender der CDU Rheinland-Pfalz
1969-1976Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz
1969-1973stv. CDU-Bundesvorsitzender
1973-1998Bundesvorsitzender der CDU
1976-2002MdB
1976-1982Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
1982-1998Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Biographischer Werdegang

Helmut Kohl wurde am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein geboren. Schon 1946 engagierte er sich als Mitgründer der Jungen Union Rheinland-Pfalz und trat 1948 in die CDU ein. Nachdem er 1950 das Abitur bestanden hatte, studierte er erst in Frankfurt am Main und anschließend in Heidelberg Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaften. 1958 wurde er dort in Neuerer Geschichte mit der Dissertation „Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiederentstehen der Parteien nach 1945“ promoviert.

Frühe Jahre

Kohls starkes Interesse an der Geschichte seiner engeren Heimat beschränkte sich nicht auf die Zeitgeschichte, sondern reichte bis ins Mittelalter zurück. Der gotische Dom zu Speyer blieb für ihn zeitlebens eines der großartigsten religiösen und historischen Monumente und Symbole der christlich-abendländischen Kultur.

Wenngleich Helmut Kohl seine politische Laufbahn schon als Jugendlicher begann, arbeitete er nach Abschluss des Studiums doch viele Jahre hauptberuflich in der Industrie, zunächst 1958/59 als Direktionsassistent einer Eisengießerei, danach von 1959 bis 1969 im Verband der Chemischen Industrie von Rheinland-Pfalz. Seine ersten politischen Funktionen übernahm er während des Studiums in Heidelberg, viele weitere folgten. Ein Landtagsmandat gewann er bereits 1959 und behielt es, bis er 1976 in den Bundestag gewählt wurde. 1963 bis 1969 amtierte er als Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion, und seit 1966 war er Landesvorsitzender sowie Mitglied des Bundesvorstands der CDU. Mit erst 39 Jahren wurde Helmut Kohl 1969 Ministerpräsident​​​​​​​ seines Heimatlandes und blieb es bis 1976.

Charakteristisch für Kohls beeindruckende landespolitische Laufbahn war das starke Engagement auf allen Ebenen der CDU, einschließlich der Kommunalpolitik, die darauf beruhende Personenkenntnis, sein jugendlicher Reformdrang und sein Machtwille: Er zeigte sich in Zurückdrängung und Ablösung seines Vorgängers als Parteivorsitzender und Ministerpräsident Peter Altmeier. So zielstrebig Kohl seinen politischen Aufstieg betrieb, so offensichtlich verband er ihn damals und später mit fähigen Weggefährten. Dazu zählte als Regierungschef in Mainz sein Kultusminister und späterer Nachfolger Bernhard Vogel.

Während seiner Ludwigshafener Jahre heiratete er 1960 Hannelore Renner, die in Mainz Sprachwissenschaften studiert hatte. Das Ehepaar bekam zwei Söhne, Walter, geboren 1963, und Peter, geboren 1965. Wie wichtig ihm das Familienleben war, hat Helmut Kohl oft betont.

Bundesvorsitzender der CDU und Oppositionsführer

Helmut Kohls 1973 im zweiten Anlauf erfolgende Wahl zum Bundesvorsitzenden der CDU als Nachfolger von Rainer Barzel fiel in eine schwierige Phase. Obwohl die CDU bei der Bundestagswahl 1969 stärkste Partei geblieben war, musste sie durch die sozial-liberale Regierungsbildung in die Opposition. Die Partei geriet in eine Krise, die sich durch die Kontroversen über die Ost- und Deutschlandpolitik der neuen Regierung und die Wahlniederlage gegen Willy Brandt 1972 verschärfte. Helmut Kohl stärkte zielgerichtet die Parteiführung gegenüber der Fraktionsführung im Bundestag, zumal er dort nicht als Oppositionsführer agieren konnte. Zugleich betrieb er energisch eine organisatorische und programmatische Reform der CDU, die nicht ganz ohne Grund seit Konrad Adenauers Zeiten als „Kanzlerwahlverein“ verspottet wurde. Zu diesem Zweck holte er sich tatkräftige Generalsekretäre, die er mit der Einleitung von strukturellen Reformen beauftragte, zunächst den Volkswirtschaftsprofessor und zeitweiligen Industriemanager Kurt Biedenkopf (1973–1977), dann den Sozialpolitiker Heiner Geißler (1977–1989). Die Parteizentrale und der Parteiapparat wurden schlagkräftig reorganisiert, die innerparteiliche Meinungsbildung gestärkt, die Mitgliederzahl zwischen 1973 und 1982 von 457.393 auf 718.889 enorm gesteigert. Substantiell bildete der Ludwigshafener Parteitag der CDU von 1978 mit dem dort beschlossenen Grundsatzprogramm einen Höhepunkt.

Zweifelsfrei blieb die CDU für ihn immer mehr als eine bloße parteipolitische Organisation, sondern war ihm Herzensangelegenheit. Jedenfalls zählte Helmut Kohl, dessen intime Kenntnis des Parteilebens und ihrer Funktionsträger legendär war, zu den ganz großen Parteivorsitzenden in der Geschichte der Bundesrepublik.

Der stärkste und wortmächtigste Oppositionsführer seit dem Machtverlust der Union 1969 war der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, woraus sich schon früh Reibungen zwischen beiden Parteivorsitzenden ergaben.

Als Spitzen- und Kanzlerkandidat der Union erzielte Kohl bei der Bundestagswahl von 1976 bei hoher Wahlbeteiligung (90,7%) mit 48,6% ein Traumergebnis – das zweitbeste in der gesamten Geschichte der Union nach der „Adenauer-Wahl“ von 1957. Damit wurde die Union wieder zur stärksten Fraktion im Bundestag und lag trotz des ‚Kanzlerbonus‘ für Helmut Schmidt sechs Prozentpunkte vor der führenden Regierungspartei SPD.

Doch paradoxerweise resultierte gerade aus diesem Wahlerfolg der strategische Dissens der beiden Unionsvorsitzenden: Während Kohl mittelfristig auf einen Koalitionswechsel der FDP zur Union setzte und seine Beziehungen zum FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher pflegte, hielt Strauß diesen Schritt der FDP zumindest auf absehbare Zeit für illusorisch. Der Streit eskalierte nicht allein wegen der üblen verbalen Attacken auf den CDU-Vorsitzenden, sondern wegen des Beschlusses der CSU-Landesgruppe im Bundestag, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen, die einst auf Betreiben von Strauß seit 1949 zustande gekommen war. Die Maxime des Kreuther Trennungsbeschlusses lautete: Getrennt marschieren, vereint schlagen! Kohls prompte Drohung, in diesem Fall einen bayerischen Landesverband der CDU zu gründen, verstärkte die heftigen Kontroversen innerhalb der CSU. Doch einigten sich die beiden Parteivorsitzenden ebenso schnell wie professionell auf die Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft.

Helmut Kohl agierte 1976 weitsichtig: Obwohl er nicht Bundeskanzler wurde, gab er sein Amt als Ministerpräsident auf. Als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU wurde er nun zum Oppositionsführer gegen die stark geschwächte SPD/FDP-Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, der als erfahrener Bundespolitiker und brillanter Rhetoriker Kohl im öffentlichen Auftritt überlegen war. Aus diesem Grund und mancher Ungeschicklichkeit Kohls wuchs die innerparteiliche Kritik an ihm, sodass er selbst auf eine erneute Kanzlerkandidatur für 1980 verzichtete. Auch dies war ein weitblickender Entschluss. Kohl brachte nun ohne Rücksprache mit der CSU den Niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht als Kanzlerkandidaten ins Spiel. Die Reaktion der CSU fiel denkbar harsch aus, sie erzwang eine Abstimmung in der Unionsfraktion, die Franz Josef Strauß gegen Albrecht gewann. Doch war dieser Etappensieg des in der Kandidatenfrage persönlich eher zögernden Strauß nur von kurzer Dauer.

Kohl unterstützte ihn im Wahlkampf. Zwar gelang es auch Franz Josef Strauß 1980, trotz zum Teil diffamierenden medialen Störfeuers von Zeitschriften wie „Spiegel“ und „Zeit“, die Union mit 44,5% vor der Kanzlerpartei SPD mit 42,9% zur stärksten Fraktion zu machen, doch blieb die FDP – wie Strauß vorhergesehen hatte – weiterhin an der Seite der SPD.

Helmut Kohl bewies erneut, dass er auf den richtigen Zeitpunkt warten konnte, und ließ sich durch Rückschläge nicht entmutigen. Das Wahlergebnis 1980 entschied den bundespolitischen Machtkampf zwischen den Vorsitzenden von CDU und CSU definitiv zugunsten Helmut Kohls. Beide erkannten die allmähliche Erosion der Koalition aufgrund wirtschafts- und sozialpolitischer, dann auch außen- und sicherheitspolitischer Zielkonflikte.

Im Herbst 1982 brach die Regierung auseinander. Tatsächlich besaß Helmut Schmidt in seiner eigenen Partei, der SPD, keinen ausreichenden Rückhalt mehr, die FDP war nicht länger bereit, die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik mitzutragen, die der linke SPD-Flügel dem eigenen Kanzler immer stärker aufzwingen wollte. Der SPD-Vorsitzende Brandt torpedierte mit einer innerparteilichen Mehrheit die Sicherheitspolitik Schmidts und den Nato-Doppelbeschluss von 1979.

Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Mit der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 begann die nächste, die zweifelsfrei bedeutendste politische Phase seiner politischen Laufbahn, in der er länger als bis dahin jeder andere 16 Jahre Bundeskanzler blieb. Trotz demoskopisch häufig prognostizierter Niederlagen gewann er bis auf die letzte (1998) jede Bundestagswahl, gemäß seinem Diktum: „Die anderen gewinnen die Umfragen, wir die Wahlen“.

Die Anfänge der Kanzlerschaft verliefen 1982/83 etwas holprig, zumal sich Kohl und Strauß über den Termin für die vorgezogene Bundestagswahl uneinig waren. Strauß hatte die Hoffnung, die FDP würde wegen des Koalitionswandels den Wiedereinzug in den Bundestag verfehlen. Wegen dieser Gefahr lehnte die FDP den früheren Termin ab, Kohl hielt sich an die Genscher gegebene Zusage, erst im März 1983 zu wählen. Als größtes Problem erwies sich die zunächst unzulängliche Besetzung der Stelle des Kanzleramtschefs. Doch nachdem Kohl schließlich 1984 Wolfgang Schäuble in dieses Amt berufen hatte, arbeitete es effizient und ohne Pannen.

Auch holte Kohl weitere hochqualifizierte Berater an seine Seite, die zum Teil schon in Mainz bzw. in der Parteizentrale, dem Konrad-Adenauer-Haus, in seinem Team gearbeitet hatten, für die Außenpolitik vor allem Horst Teltschik. Auch unter den Bundesministern befanden sich aus allen Koalitionspartnern ausgesprochene Schwergewichte, für die CSU etwa Innenminister Friedrich Zimmermann, für die FDP Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, für die CDU Arbeitsminister Norbert Blüm und vor allem im Schlüsselressort des Bundesfinanzministers der langjährige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Gerhard Stoltenberg.

Zwar setzte Kohl auf Loyalität, fürchtete sich jedoch nicht vor eigenständigen Persönlichkeiten in seiner Regierung. Stoltenberg war insofern von besonderer Bedeutung, als eine solidere Haushaltspolitik zu den Grundforderungen der Unions-Opposition gezählt hatte und Stoltenberg zum Partner Otto Graf Lambsdorffs wurde, dessen wirtschaftspolitische Forderungen an die SPD maßgeblich zur koalitionspolitischen Umorientierung der FDP beigetragen hatten.

Die Ära Kohl bis 1989

Diese haushaltspolitische Sanierung gewann langfristig große Bedeutung, als auf die Bundesrepublik seit 1990 enorme Kosten für die Wiedervereinigung zukamen. In der Deutschland- und Außenpolitik setzte der neue Bundeskanzler in vielen Punkten auf Kontinuität und strafte so diejenigen Lügen, die hier Rückschritte erwartet hatten. Im Unterschied zu seinem Vorgänger Schmidt gelang es Kohl sogar, gegen heftigen politischen Gegenwind in der öffentlichen Meinung und zahlreiche Massendemonstrationen den von Schmidt „erfundenen“, sogenannten Nato-Doppelbeschluss durchzusetzen, der schließlich durch die extremen Kosten der eigenen Hochrüstung zum wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion beitrug.

Helmut Kohls Postulat einer geistig-moralischen Wende ist oft belächelt worden, doch hat Kohl ein größeres kulturpolitisches Erbe hinterlassen als alle Kanzler vor und nach ihm. Dazu trugen nicht nur seine geschichtspolitischen Initiativen bei, wie etwa für das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn oder für das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, sondern mehrere auf ihn zurückgehende Gründungen deutscher historischer Institute im Ausland sowie Kulturbauten in Berlin, die dann weitgehend unter der Ägide seines Bauministers bzw. später persönlichen Beauftragten Oscar Schneider (CSU) entstanden und im Kanzleramt durch den für Wissenschaft zuständigen Staatsminister Anton Pfeifer (CDU) betrieben wurden.

Doch wurde Kohl von linksliberalen Intellektuellen und Medien ebenso unterschätzt wie von innerparteilichen Konkurrenten und politischen Gegnern. Helmut Kohl war nicht allein ein taktisch versierter Parteipolitiker und Machtmensch, sondern ein historisch gebildeter, ungemein belesener, über den Tag hinausblickender Stratege. Insofern ähnelte er durchaus seinem Unions-Antipoden Strauß. Dazu gehörte, dass beide die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland keineswegs verdrängten. Dieser abwegige Vorwurf der Verdrängung wurde Kohl unter anderem in einem medialen Entrüstungsturm vorgeworfen, als er gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den Soldatenfriedhof Bitburg besuchte, auf dem überwiegend Wehrmachtssoldaten, aber auch SS-Angehörige beerdigt worden waren.

Helmut Kohls große Rede aus Anlass des 40. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im April 1985 wurde indes fast verschwiegen, obwohl sie wie viele andere Ansprachen Kohls eine scharfe Abrechnung mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland enthielt. Tatsächlich ging es dem Historiker Kohl darum, sich der gesamten deutschen Geschichte zu stellen und sie reflektiert für politische Entscheidungen zu nutzen.

Hier lag einer der Gründe, warum Kohl für die Jahre 1989/90 besser gerüstet war als viele seiner Gegner: In langfristiger historischer Perspektive denkend und handelnd, gab er das grundgesetzlich postulierte Ziel der Wiedervereinigung nie auf. Als sich völlig unverhofft seit Herbst 1989 diese Perspektive eröffnete, ergriff er sofort zielgerichtet jede Chance und bewies herausragendes diplomatisches Geschick und außerordentliche Durchsetzungskraft.

Außenpolitische Erfolge und deutsche Wiedervereinigung

Zu den langfristig wirksamen außenpolitischen Leistungen der Regierung Kohl-Genscher zählte die Intensivierung der Beziehungen zu den Nachbarländern. Dabei bemühte sich Helmut Kohl besonders um Frankreich und entwickelte zum französischen Präsidenten François Mitterrand ein enges persönliches Verhältnis. Ebenso verbesserte er nachhaltig die Kontakte zu den USA und ihren Präsidenten Ronald Reagan, George H. W. Bush sowie Bill Clinton. Innerhalb der Europäischen Union verstand es Kohl, die Interessen der kleineren Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen, was ihm erhebliches Vertrauen einbrachte. Seine europäische Integrationspolitik bewirkte die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors. Kohl bemühte sich ebenfalls um die deutsch-polnische Verständigung. Nach einer anfänglichen Verstimmung des neuen Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, über ein verunglücktes Kohl-Interview (über die vermeintlich Goebbels vergleichbaren propagandistischen Fähigkeiten Gorbatschows) entwickelte er auch zu diesem ein immer besseres Verhältnis.

Das von Helmut Kohl gewonnene internationale Ansehen und das Vertrauensverhältnis zu zahlreichen Staatsmännern erwiesen sich für den erfolgreichen Prozess der Wiedervereinigung 1989/90 als unschätzbares Gut. Zwar hatte die Erosion der kommunistischen Diktaturen und damit des Warschauer Paktes viele lang- und kurzfristige Ursachen, zwar waren die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die immer massivere Ausreise- und Fluchtwelle aus der DDR, schließlich die dortige friedliche Revolution nicht auf den Bundeskanzler zurückzuführen. Doch andererseits bewirkten diese Entwicklungen keineswegs automatisch die Wiedervereinigung. Dieser Prozess war viel komplexer und konnte nicht durch deutsch-deutsche Verständigung allein erreicht werden, sondern war ganz entscheidend von den internationalen Verhandlungen abhängig. Sogar bei vielen Regierungen befreundeter Staaten dominierte die zum Teil historisch begründete Ablehnung der Wiedervereinigung. Sie sahen ein in der Mitte Europas entstehendes, wiederum übermächtiges Deutschland als Bedrohung an und fürchteten überdies die dann vermutlich noch größere deutsche Wirtschaftskraft und politische Macht.

Aufgrund seines Vertrauenskapitals und sensibler Diplomatie gelang es Kohl, diese Widerstände der europäischen Nachbarn abzubauen. Die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten Bush erwies sich dabei als unentbehrlich. In zähen Verhandlungen mit Gorbatschow erreichte Kohl schließlich die Einwilligung der Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland, die zu den Bedingungen Kohls und Bush zählten, die aber die Sowjetführung nur schwer akzeptieren konnte. Der zögernde Mitterrand wurde durch die dialektische Einbettung der Wiedervereinigung in die von ihm und Kohl gemeinsam vorangetriebene europäische Integration gewonnen: Ein noch stärker integriertes Europa band auch ein wiedervereinigtes Deutschland ein.

Um das von Helmut Kohl seit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 energisch verfolgte Ziel zu erreichen, bedurfte es nicht allein schneller Entscheidungen, ständiger Verhandlungen mit einer Vielzahl von Regierungen, sondern immer wieder auch taktischer Manöver. So erwies sich beispielsweise der Zehn-Punkte-Plan vom 28. November als Aufsehen erregender geschickter Schachzug – zwar wurde der Plan nicht realisiert, signalisierte aber unmissverständlich: Wir wollen die Wiedervereinigung und schlagen konkrete Schritte vor. Die friedliche Revolution überrollte dann solche Planungen, gab aber Kohl ein internationales Druckmittel in die Hand. Sowohl innen- wie außenpolitisch musste die definitive Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze vorbereitet werden, ohne dieses Pfand vorzeitig aus der Hand zu geben.

Die sogenannten 2+4-Verhandlungen der alliierten sowie der beiden deutschen Außenminister – für die DDR zunächst Markus Meckel (SPD), dann Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) – bei denen Genscher eine wesentliche Rolle spielte, die zähen innerdeutschen Verhandlungen, die Wolfgang Schäuble mit dem Ost-Berliner Staatssekretär Günther Krause um einen Einigungsvertrag führten, die finanzpolitischen Aktionen, die Finanzminister Theo Waigel im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion in die Wege leitete – all diese und viele weitere Aktionen bedurften der Koordination. Dass die Wirtschafts- und Währungsunion aus Expertensicht verfrüht war und zu weit ging, änderte nichts am politischen Zwang für solche Entscheidungen. Und nicht zu vergessen, die Entscheidung des Bundestags für Berlin als Hauptstadt hat Kohl im Verein mit Schäuble energisch betrieben, ebenso wie die riesigen Investitionen in den östlichen Bundesländern mit dem Ziel, sie zu „blühenden Landschaften“ zu machen – was trotz vieler aus der DDR-Diktatur herrührender Probleme in nur einer Generation weitgehend realisiert wurde.

Helmut Kohl gelang es in dem nur für kurze Zeit offenen Zeitfenster schließlich, West- und Ostpolitik mit den innerdeutschen Entwicklungen konstruktiv und effizient zu verbinden. Kein Zweifel, dass ihm das größte Verdienst an der Wiedervereinigung Deutschlands und damit einer der bedeutendsten Leistungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zukommt. Zum ersten Mal in der langen Geschichte des „deutschen Problems“ seit dem 17. Jahrhundert gelang eine Lösung mit rein politischen, diplomatischen und ökonomischen Mitteln, also im Unterschied zu Bismarcks Reichsgründung 1870/71 auf friedlichem Weg.

Verbindung von Deutschland- und Europapolitik

Diese herausragende staatsmännische Leistung wurde dialektisch mit den fundamentalen Entscheidungen zur europäischen Integration verbunden, also dem Maastricht-Vertrag, dem Schengen-Abkommen und der Euro-Einführung. Kohls Wirken als großer Europäer, für das ihm zu Recht der Titel „Ehrenbürger Europas“ verliehen wurde, findet außerhalb Deutschlands oft größere Anerkennung als in seinem eigenen Land. Die Kritik an der Verletzung der Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages und an der Euro-Rettungspolitik ist zweifellos berechtigt, doch tragen dafür nicht Helmut Kohl und Theo Waigel die Verantwortung, sondern diejenigen, die später gegen zentrale Vereinbarungen des Vertrags verstoßen haben.

Das dritte große Verdienst von Helmut Kohls Außenpolitik betrifft die von ihm anvisierte europäische Friedensordnung, in die außer den ostmitteleuropäischen Staaten auch Russland einbezogen werden sollte. Schien dieses visionäre Projekt nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/91 zunächst zu gelingen, so bleibt es einstweilen unvollendet. Aber auch in diesem Sektor hat Helmut Kohl weder die späteren Versäumnisse noch die Streitfälle zwischen Russland und dem Westen zu verantworten. Die vielleicht zu schnell erfolgende Osterweiterung der EU hat er mit vorangetrieben. Zusammen mit dem von ihm durchgesetzten Abzug der Roten Armee (mit insgesamt 450.000 Personen) aus dem ehemaligen Gebiet der DDR hat er nicht nur für das wiedervereinigte Deutschland eine schwere Hypothek abgebaut, sondern ebenso für Polen und die baltischen Staaten, die nun keine Umklammerung mehr fürchten mussten. Doch war für Kohl immer klar, dass das nachsowjetische Russland ein unverzichtbarer Teil der neuen Friedensordnung sein müsse und mit diesem Ziel hat er seine Politik gegenüber dem russischen Präsidenten Boris Jelzin gestaltet.

Wenngleich also sowohl die Entwicklung der EU problematische Züge aufweist und die in den 1990er Jahren so verheißungsvoll eingeleitete europäische Friedensordnung bisher nur partiell realisiert wurde, bleiben die Grundprinzipien dieser Politik doch weiterhin unverzichtbar.

Bundeskanzler a.D. seit 1998

Helmut Kohl blieben in seinen letzten Jahren bittere Erfahrungen nicht erspart, dazu zählte vor allem der Tod seiner ersten Frau Hannelore im Jahr 2001, der ihn schwer traf, später ein Sturz mit schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Der stets präsente überwältigende „Oggersheimer Riese“ im Rollstuhl – das erschien kaum vorstellbar. Gegen unberechtigte Schmähungen seines Lebenswerks konnte er sich danach selbst kaum noch zur Wehr setzen.

Hinzu kam 1999/2000 die Aufsehen erregende Parteispendenaffäre. Kohl hatte als CDU-Vorsitzender gegen das Parteiengesetz verstoßen, weil er mehrere Großspenden nicht deklariert hatte und sich auch nachträglich weigerte, die Namen der Spender zu nennen. Zwar hat er sich nicht persönlich bereichert, zwar machten die Spenden jeweils nur einen Bruchteil des Jahreshaushalts der CDU aus, zwar hat er den materiellen Schaden für seine Partei aufgrund der Strafzahlungen persönlich beglichen. Aber der Ansehensverlust und vor allem das innerparteiliche Zerwürfnis mit langjährigen Weggefährten erwiesen sich als irreparabel. In der Folge musste er den Ehrenvorsitz seiner Partei niederlegen. Seine letzten Jahre verbrachte er, durch seine zweite Frau Dr. Maike Kohl-Richter, die er 2008 geheiratet hatte, unentbehrlich unterstützt, überwiegend in seinem Oggersheimer Haus. Zwar veröffentlichte er noch kürzere Stellungnahmen und Texte, doch den vierten Band seiner „Erinnerungen“ konnte er nicht mehr vollenden.

Das heutige Europa ist nachhaltig durch den Dreiklang der deutschen Einigung 1989/90, der europäischen Integration und der friedlichen Neuordnung Europas in den 1990er Jahre geprägt. Helmut Kohl hatte an diesen Entwicklungen herausragenden Anteil, das macht ihn zu einem der größten deutschen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Nach langjährigem schweren Leiden starb Helmut Kohl mit 87 Jahren am 16. Juni 2017 in seiner Geburtsstadt Ludwigshafen. In einer feierlichen Sitzung im Europaparlament in Straßburg, an der führende Politiker aus aller Welt teilnahmen, würdigten unter anderen Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den großen Europäer. Auf dem Alten Friedhof nahe der Friedenskirche Sankt Bernhard in Speyer wurde er am 1. Juli 2017 beerdigt.

  • Siehe auch das Online-Portal zu Helmut Kohl.

Horst Möller