Rhöndorfer Ausgabe Online

16. März 1946 (Rhöndorf)

An William F. Sollmann

, Pendle Hill, Wallingford/Pennsylvanien

HAStK, 1120/596/VII-1-21, 21a Mikrofilm vom Original in NL Sollmann, Swarthmore College, Peace Collection (Swarthmore, Pennsylvanien), General Correspondence 1946-1951, Box 8, DG 45


Lieber Herr Sollmann!

Ich erhielt Ihren Brief vom 20.11.45 und habe mich lange nicht mehr über einen Brief so gefreut1. Ich hatte sehnlichst immer gehofft, Sie in Köln zu sehen. Aber ich hatte schon sehr früh erfahren, daß das wohl unmöglich sein würde. Ich hatte mich auch an Fräulein Kraus indirekt gewandt und über denselben Weg gehört, daß zurzeit ein Herüberkommen nicht möglich sei. Das ist sehr schade; ich glaube, daß gerade Menschen wie Sie und Fräulein Kraus viel Gutes hätten tun können, insbesondere auch in politischer Hinsicht. Wie es bei uns aussieht, werden Sie ja in der Zwischenzeit aus den Schilderungen Ihrer Verwandten und Freunde gehört haben. Das deutsche Volk ist seelisch und materiell in einer Tiefe angelangt, die Schrecken erregend ist. Es wird einer sehr langen, sehr mühsamen und sehr planmäßigen Aufbauarbeit bedürfen, die natürlich in erster Linie vom deutschen Volke selbst geleistet werden muß, bei der es aber der Hilfe anderer Nationen bedarf.

Wir haben von 33 bis 45 manchmal sehr schwere Zeiten gehabt. Im August 44 wurde ich zum zweiten Mal verhaftet, kam in ein KZ-Lager, wurde nach 14 Tagen wegen lebensgefährlicher Erkrankung entlassen, nach 2 Wochen wieder verhaftet und kam dann in das Gestapo-Gefängnis in Brauweiler, in dem ich bis Ende November 44 verblieb. Dann wurde ich entlassen, blieb aber unter ständiger Aufsicht der Gestapo, und es wurde mir eröffnet, daß ich bei weiterer Annäherung der Alliierten sofort wieder verhaftet würde. Durch den überraschenden Übergang der Amerikaner über den Rhein bei Remagen-Erpel ist es dazu nicht mehr gekommen. Ich wurde von den Amerikanern nach Köln geholt, blieb dort auch nach dem Einrücken der Engländer bis 6.10.45. An diesem Tage wurde ich wegen »Unfähigkeit« entlassen, und es wurde mir jede politische Tätigkeit untersagt. Das Verbot wurde binnen kurzem gemildert, dann ganz aufgehoben, und zurzeit bin ich als einer der Führer der Christlich-Demokratischen-Union in einer ausgedehnten politischen Tätigkeit. Trotz meines Alters habe ich mich dem nicht entziehen können, weil die geistige Verfassung des deutschen Volkes es verlangt, daß jeder auch den letzten Rest seiner Kraft hergibt. – Meine Frau ist Sept. 44 von der Gestapo verhaftet worden. Auch sie wurde nach 10 Tagen entlassen. Seit der Zeit leidet sie aber an einer Krankheit, die mir ernste Sorgen macht. Meine drei Söhne, die alle draußen waren und die in amerikanische bezw. englische Kriegsgefangenschaft gerieten, sind zurück. Meine älteste Tochter ist in M.-Gladbach verheiratet, eine weitere ist stud. phil. in Bonn, eine dritte bereitet sich auf das Abiturienten-Examen vor. Soviel von uns. –

Durch meinen Sohn Max, der ja 37-38 drüben war, habe ich von Ihnen und Ihrer Familie gehört und auch später gelegentlich indirekte Nachrichten über Sie bekommen. Ich freue mich sehr, daß es Ihnen gelungen ist, sich dort ein so schönes Betätigungsfeld zu schaffen, und daß es Ihrer Frau hoffentlich leidlich geht. Es ist sicher schwer, daß sie im Gehen behindert ist. Aber sie ist eine tapfere Frau und wird auch diese Prüfung überwinden. Daß Ihre Tochter eine so befriedigende Stellung hat, freut mich besonders.

Joos hat mich dieser Tage besucht. Er ist, wie Sie wissen werden, als Elsass-Lothringer Franzose. Seine Kinder haben gute Stellungen in Frankreich bezw. in franz. Kolonien. Er selbst hat die 4 Jahre Dachau merkwürdig gut überstanden. Er ist geistig sehr frisch. Zurzeit schreibt er ein Buch über Dachau auf psychologischer Grudnlage2. Herr Rings lebt noch. Er wird diesen Sommer 90 Jahre alt. Sein Haus in Köln war total zerstört. Er war in die Provinz Brandenburg geflüchtet. Es ist ihm erst vor wenigen Monaten gelungen, heimlich über die Grenze der russischen Zone zurückzukommen. Die Strapazen, die er dort hat aushalten müssen, waren derart, daß er nachher völlig zusammenbrach, so daß wir das Schlimmste befürchteten. Er scheint sich aber wieder zu erholen. Auch er ist geistig außerordentlich frisch. Herr Mönnig lebt ebenfalls noch. Er ist jetzt 82 Jahre alt, völlig erblindet, aber auch noch geistig frisch. Herr Falk3 ist im Dez. 44 in Brüssel gestorben. Seine Frau teilte mir dies mit. Sie wird inzwischen nach Brasilien oder Australien zu einem ihrer Söhne ausgewandert sein4. Falks haben sich während der ganzen Besatzungszeit in Brüssel verborgen gehalten.

Mein Nachfolger in Köln ist Herr Pünder, dessen Sie sich erinnern werden, geworden. Herr Görlinger ist Leiter der SPD in der Rheinprovinz und natürlich auch in Köln und in der Kölner Stadtverordneten-Versammlung. Er ist fleißig wie immer, aber ich glaube, er sieht als das Wesentlichste seiner Tätigkeit die Bearbeitung von Personalien an, und das halte ich nicht für richtig. Herr Hamacher macht uns große Sorge. Er ist von den Herren, die zuerst die Gründung der CDU betrieben, den Herren Schaeven, der noch ganz der Alte ist, Scharmitzel und Dr. Leo Schwering in unverantwortlicher Weise übergangen worden. Das kann er nicht vergessen. Er hat deswegen die alte Zentrumspartei wieder ins Leben gerufen, neuerdings zusammenarbeitend mit dem früheren Ministerial-Direktor Spi[ec]ker, der Ihnen ja auch bekannt sein dürfte. Ich glaube nicht, daß die Zentrumspartei eine Zukunft hat, aber sie ist – namentlich in Westfalen – unbequem und vor allem, sie trägt wieder zur Zerspaltung, dem alten Grundübel der Deutschen, bei.
Seit 8 Tagen erscheint die Rheinische Zeitung wieder5. Ich habe bisher zwei Nummern davon gelesen. Die alte Zeitung stand geistig turmhoch darüber.

Ich danke Ihnen sehr für Ihr freundliches Anerbieten, mir – wenn ich ein Anliegen hätte – behilflich zu sein. Ich habe augenblicklich nur ein Anliegen, aber ein sehr großes, und das ist folgendes:

USA kennt Europa nicht. Ich stand mit den Offizieren der amerikanischen Besatzung hier ganz ausgezeichnet und habe das immer wieder erfahren müssen, daß sie Europa nicht kennen. Daher ist USA auch geneigt, sich nicht für europäische Angelegenheiten zu interessieren. Und doch ist das ganz falsch. Wenn die europäische Kultur, die seit 30 Jahren schwer gelitten hat, ganz zugrunde geht, so wird das auch für USA von großer Bedeutung sein. Die Gefahr ist groß. Asien steht an der Elbe. Nur ein wirtschaftlich und geistig gesundes Westeuropa unter Führung Englands und Frankreichs, ein Westeuropa, zu dem als wesentlicher Bestandteil der nicht von Rußland besetzte Teil Deutschlands gehört, kann das weitere geistige und machtmäßige Vordringen Asiens aufhalten. Helfen Sie doch, die Überzeugung in USA zu verbreiten, daß die Rettung Europas nur mit Hilfe von USA erfolgen kann und daß die Rettung Europas auch für USA wesentlich ist.

Ich habe immer gern an Sie zurückgedacht, auch wenn wir manchmal verschiedener Meinung waren. Geistige Auseinandersetzungen gehören zum Leben, und sie sind notwendig zu jedem Fortschritt. Die geistigen Auseinandersetzungen mit Ihnen waren mir immer eine Freude. – Ich hoffe sehr, daß wir uns noch einmal wiedersehen.

Meine Frau und mein Sohn Max – er war es, der 37 drüben war – und vor allem ich grüßen Sie und Ihre Frau herzlich!
Ihr
Adenauer


  1. ^

    Schreiben in NL Sollmann und StBKAH nicht erhalten. Zur Kontaktaufnahme zwischen Adenauer und Sollmann ein Schreiben Sollmanns an Heinrich Brüning vom 8.8.1946: »Von Deutschland habe ich nun viele direkte Briefe: Schumacher, Löbe, Adenauer, Meerfeld, Rossmann und viele andere. Die Enttäuschung über die Politik der Sieger ist natürlich allgemein, die Furcht vor Rußland auch« (vgl. Thomas A. Knapp, Dokumentation: Heinrich Brüning im Exil, in: VfZ Jg. 22 [1974], S.117; Druck des Antwortbriefes Brünings vom 20.8.1945 bei Claire Nix [Hrsg.], Brüning-Briefe, S. 145 f.). Eine weitere Reaktion Sollmanns auf das hier abgedruckte Adenauer-Schreiben geht aus einem Brief an Heinz Kühn vom 13.9.1946 hervor: »Es tut mir leid, daß Ihr mit Adenauer so schlecht steht. Wahrscheinlich kennt ihn niemand so gut wie ich, von seinen Anfängen her. Wir haben viel zusammengearbeitet seit 1915. Später habe ich ihn allerdings auch nicht mehr recht verstanden. Immerhin, sein Brief hierhin war außerordentlich warm und freundschaftlich, nach so vielen Jahren. Ich möchte wohl gern mal einen Tag mit ihm zubringen. (vgl. Heinz Kühn, Wilhelm Sollmann, S. 38).

  2. ^

    Noch 1946 erschien im Verlag Otto Walter AG, Olten/Schweiz: Joseph Joos, Leben auf Widerruf. Begegnungen und Beobachtungen im K.Z. Dachau 1941-1945; vgl. das Schreiben an den Direktor der Caritas-Bibliothek vom 2.3.1947.

  3. ^

    Ausführliche biographische Angaben in: Biographisches Handbuch Bd. 1, S. 166. Hinweise auf Kontakte zu Adenauer vor 1933 bei Gertrud Wegener, Die Wahl Konrad Adenauers zum Oberbürgermeister 1917, S. 82, 85, 90-92.

  4. ^

    Mitteilungen von Frau Else Falk (1874-1956), die vor 1933 führend in der Kölner Frauenbewegung tätig gewesen war, über das Schicksal ihres Mannes liegen für diesen Zeitraum in StBKAH nicht vor (erste hier nachweisbare Kontaktaufnahme – durch ein Schreiben aus São Paulo – im Sommer 1949).

  5. ^

    Zum Wiedererscheinen der ›Rheinischen Zeitung‹ (Lizenzerteilung durch die Engländer am 26.2.1946, erste Ausgabe am 2.3.1946) vgl. die Lebenserinnerungen des damaligen stellvertretenden Chefredakteurs Heinz Kühn, Aufbau und Bewährung, S. 25f.