Rhöndorfer Ausgabe Online

5. Juli 1945

An Dr. Hans Rörig

, Bern

Original in HAStK Best. 1290, A 70A


Sehr geehrter Herr Rörig!

Ihren Brief habe ich erhalten. Es wird sicher möglich sein, Ihnen bis auf weiteres innerhalb der Verwaltung der Stadt Köln, oder an sie angegliedert, eine befriedigende Tätigkeit zu geben. Also kommen Sie ruhig herüber. Wie ist es mit der Wohnungsfrage?


Ich komme zunächst mit einer persönlichen Bitte: Mein Sohn, Dr. jur. Konrad Adenauer, 40 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, vorher kaufmännischer Direktor bei der Fabrik Talbot in Aachen, Gefreiter, Feldpostnummer 21 851G, war zuletzt in Brontan in Norwegen. Die letzten Nachrichten, die wir von dort haben, sind vom 17.2.1945. Er wird, wie wir hoffen, in englischer Kriegsgefangenschaft sein. Nach den Mitteilungen des Londoner Senders wird der Abtransport der Kriegsgefangenen aus Norwegen am 20. Juli beginnen. Wäre es nicht möglich, durch Ihre Londoner Verbindungen zu erreichen, daß er baldmöglichst aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wird? Ich würde Ihnen sehr dankbar sein. Vielleicht können Sie sich zu diesem Zwecke an Clive1 wenden. Ob er noch lebt, weiß ich natürlich nicht. Er war 37 noch Hofmarschall in Palace Buckingham. Mein Sohn Max hat ihn damals dort besucht. Ich kenne ihn aus der früheren Besatzungszeit. Er hat die freundschaftlichen Beziehungen, die sich damals zwischen uns angebahnt haben, fortgesetzt. Ich glaube sicher, daß er mir gern einen Gefallen tut. Vielleich kann auch Prof. J[ä]ckh2 irgendwie helfen. Evtl. werden Sie auch noch andere Stellen wissen. Ich würde mich an Clive und J[ä]ckh unmittelbar wenden, aber ich weiß nicht ihre Adressen, und es ist so schwierig, einen Brief an sie zu befördern. Bitte sehen Sie zu, was Sie in dieser Angelegenheit tun können. Wir alle sind Ihnen von Herzen dankbar.

Die folgende Mitteilung bitte ich, streng vertraulich zu behandeln. Ich sehe die Entwicklung in Deutschland mit ›steigender‹3 Sorge. Rußland läßt einen eiserenen Vorhang4 herunter. Ich glaube nicht, daß es sich bei der Verwaltung der Hälfte Deutschlands, die ihm überantwortet ist, von der Zentralen Kontrollkommission irgendwie beeinflussen lassen wird. Die weitblickenden englischen und amerikanischen Stellen teilen wohl diesen Standpunkt, denn sie haben keine Hoffnung, in Zukunft aus diesem Teil Deutschlands noch Zufuhren an Lebensmitteln zu erhalten. Hinsichtlich der Verwaltung der britischen, der amerikanischen und der demnächstigen französischen Zone herrscht ein verhängnisvolles Durcheinander. Ich glaube wohl, daß die Mehrzahl der militärischen Stellen, die sich z.Zt. mit der Verwaltung dieser Gebiete befaßt, nicht schlechten Willen hat, aber es geht ihnen völlig ab die Kenntnis Deutschlands, Verwaltungserfahrung, namentlich die Einsicht dafür, was auch dieses Restdeutschland für Europa, insbesondere für Mitteleuropa und damit für England und Frankreich und letzten Endes auch für Amerika bedeutet. In wirtschaftlicher Hinsicht ist man über die allerkümmerlichsten Anfänge noch nicht hinausgekommen. So wird es Sie interessieren, daß die Förderung im Industriegebiet 10% normal beträgt und daß von diesen 10% 7% nach Frankreich gehen. Daß mit dem Verbleib der 3% die Wirtschaft nicht angekurbelt werden kann, auch nicht der Eisenbahnverkehr, daß kein Hausbrand zur Verfügung stehen wird, brauche ich nicht zu sagen. Ich befürchte, daß diesen Winter in Deutschland Millionen Menschen an Hunger und Kälte sterben werden. Hungerödeme als Todesursache sind schon jetzt nicht selten. In verwaltungsmäßiger Hinsicht scheint man darauf hinauszugehen, kleine Verwaltungseinheiten zu bilden, die unter einer Art Staatsregierung verwaltet werden sollen. So ist z.B. die Rheinprovinz aufgeteilt. Die Regierungsbezirke Koblenz und Trier heißen jetzt Südrheinprovinz, die Reg. Bezirke Köln, Düsseldorf und Aachen Nordrheinprovinz. Diese Nordrheinprovinz steht unter Oberpräsident Fuchs5, der sich eine Art Staatsregierung bilden mußte und sich nun anschickt, die Geschäfte der früheren zentralen Reichsregierung und preußischen Regierung zu übernehmen. Man erwägt dort Maßnahmen wie Abstempelung der Banknoten und dergl., Einführung neuer allgemeiner Steuern u.s.f. Daß es ein Unding ist, in einem derartig kleinen Raum derartige Maßnahmen zu planen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Anscheinend soll es auch nicht etwa bei der inoffiziellen verlautbarten, angekündigten »Aufsicht« der Besatzungsbehörden bleiben, sondern diese wollen direkt regieren, d.h. jede Anordnung des Oberpräsidenten vorher genehmigen. In Hamburg machen sich starke Bestrebungen geltend, einen selbstständigen Stadtstaat zu errichten. Guten Nachrichten zufolge sollen diese Bestrebungen von den Engländern unterstützt werden. Von Bayern gilt das gleiche. Kurz, die ganze Lage ist äußerst besorgniserregend. Es scheint mir dringend notwendig zu sein, daß jetzt, nachdem die Wahlen in England vorbei sind6, einsichtige und maßgebliche Leute von dort, sei es von der Presse, sei es von der Regierung oder von der Wirtschaft, nach hier kommen, um an Ort und Stelle die Probleme zu studieren. Ich bitte Sie sehr, helfen Sie doch, daß solche Leute auch ‹auch›7 zu mir kommen8. Mein Urteil ist, wie ich hoffe, ganz ungetrübt von Ehrgeiz. Ich beabsichtige nichts anderes zu werden oder zu sein, als Oberbürgermeister der Stadt Köln und auch das nur für eine beschränkte Zeit, bis ich den Wiederaufbau der Stadt in seinen Anfängen wenigstens gesichert habe. Andererseits ist meine politische Vergangenheit einwandfrei, und ich glaube daher, wohl als guter Berater dienen zu können und angesehen zu werden. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhange wichtig, Ihnen zu sagen, daß ich auf der in Washington aufgestellten Weißen Liste für Deutschland an erster Stelle stand. Benutzen Sie also bitte die Postmöglichkeiten, die Sie jetzt von der Schweiz aus haben, und setzen Sie im Interesse der deutschen, aber auch der europäischen Sache alle Hebel in Bewegung.


Von Herrn von Weiß höre ich, wie es Ihnen und Ihrer Gattin geht. Uns geht es leidlich, wir haben viel Schweres durchmachen müssen. Ich hoffe, Sie also in absehbarer Zeit hier zu sehen, und grüße Sie und Ihre Gattin herzlichst,

Ihr
Adenauer

‹Vielleicht haben Sie auch Verbindung zu Herrn v. Stutterheim, der, soviel ich weiß, mit Eden verschwägert ist9.

Von Interesse dürfte auch für Sie sein, daß wir versuchen, nachdem Leipzig durch die russische Besetzung von der Verbindung mit der britisch-amerikanisch-französischen Zone bis auf weiteres abgeschlossen ist, die Buchhandelszentrale für diesen Teil nach Köln zu bekommen. Wichtig würde es für uns sein, wenn die Schweizer Verlage und Buchhandlungen der verschiedensten Richtungen, namentlich auch diejenigen, die wissenschaftliche Bücher verlegt haben, selbständige Niederlassungen in Köln errichteten, sobald das möglich ist. Wenn Sie nach der Richtung etwas tun können, so würde ich Ihnen dafür sehr dankbar sein10. Würde es Ihnen möglich sein, den Verleger Hegner, der, wie mir gesagt wurde, in London ist, in Verbindung mit uns zu bringen?1112


  1. ^

    Zu den früheren dienstlichen Beziehungen zu Adenauer (1919 im besetzten Rheinland) vgl. Marie-Luise Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht, S. 106f., 671-673, wie auch die zahlreichen Angaben bei Karl Dietrich Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik; zu späteren Kontakten (1934/35 in Berlin) und zur persönlichen Unterstützung des verfolgten Adenauer durch Clive vgl. Hans Georg Lehmann, Adenauer und der rheinische Separatismus 1918/19. Clives Intervention zugunsten Adenauers vom Januar 1935, in: Adenauer-Studien Bd. III, S. 213-225.
    Die mit Clive erstmals angesprochenen guten Verbindungen Adenauers »zu einigen hervorragenden britischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die frühzeitig für eine Unterstützung Deutschlands eintraten« (u.a. zum späteren britischen Botschafter in der Bundesrepublik, Sir Christopher Steel, dem Schwiegersohn Clives) werden besonders gewürdigt von Karl-Günther von Hase, Adenauer und Großbritannien, S. 636.

  2. ^

    Auf persönliche Bekanntschaft mit Adenauer lässt schließen, dass Jäckh von diesem in den 20er Jahren als Sekretär der großen Werkbund-Ausstellung »Die neue Zeit« nach Köln geholt wurde; vgl. Ernst Jäckh, Der goldene Pflug, S. 197, 208 und Rüdiger Joppien, »Die geistige Haltung der eigenen Zeit«. Konrad Adenauer, Karl Wirth und die Neuaufstellung des Kölner Kunstgewerbemuseums (1932), in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch Bd. XLII (1981), S. 237-266.

  3. ^

    ‹ › hs. von Adenauer korrigiert aus »spannender«.

  4. ^

    Zu diesem Begriff und seiner Verwendung in der Zeit kurz vor und nach Kriegsende (Graf Schwerin-Krosigk am 2.5.1945 /Churchill am 12.5.1945) vgl. Karl-Heinz Minuth, »Eiserner Vorhang«. Zur Geschichte eines politischen Schlagwortes unserer Zeit, in: GWU Jg. 15 (1964), S. 47f.

  5. ^

    Oberpräsident Hans Fuchs war zunächst von den Amerikanern mit der Leitung der von ihnen besetzten rheinischen Gebiete beauftragt worden (Amtssitz Bonn); nach der am 21.6.1945 vorgenommenen Bildung der Nordrhein-Provinz durch die Engländer übernahm er unter Verlagerung des Amtssitzes nach Düsseldorf das dortige Oberpräsidium; vgl. hierzu Eduard Spoelgen, Aus Bonns jüngster Vergangenheit, S. 433.

  6. ^

    Wahlen zum britischen Unterhaus am 5.7.1945, die zu einem Erfolg der Labour-Party (399 statt zuletzt 166 Mandate, dementsprechender Rückgang der Konservativen von 361 auf 189), zur Ablösung des Premierminister Churchill und zur Bildung der neuen Regierung Attlee führten.

  7. ^

    ‹ › hs. von Adenauer eingefügt.

  8. ^

    Vgl. hierzu Rudolf Morsey, Konrad Adenauer und die Gründung, S. 110.

  9. ^

    Im Gegensatz zu den erfolgreichen Bemühungen bei Clive blieben Rörigs Erkundigungen in dieser Hinsicht ergebnislos: »Stutterheim wurde in Australien vom Krieg überrascht. Was mit ihm geschehen ist, weiß ich nicht« (Antwortschreiben vom 23.7.1945).

  10. ^

    Zu diesem Fragenkomplex nähere Angaben in dem Schreiben an Elfriede Kern vom 17.7.1945 und in dem Schreiben an Franz Rudolf von Weiss vom 11.8.1945; vgl. auch Toni Diederich, Adenauer als Oberbürgermeister, S. 513.

  11. ^

    Vgl. das Schreiben an Jakob Hegner vom 2.10.1945.

  12. ^

    ‹ › auf gesondertem Blatt beigefügte ms. Notiz.