Rita Anna Tüpper
Konrad Adenauer hielt 1922 als Präsident des Katholikentags in München die Eröffnungs- und Schlussansprache. In Auseinandersetzung mit Kardinal von Faulhaber sprach er sich öffentlichkeitswirksam für die Unterstützung der demokratischen Weimarer Republik durch das Zentrum aus. Der spätere CDU-Parteivorsitzende und Bundeskanzler legte hier als aufstrebender Politiker ein für die Programmatik der Christlichen Demokratie wegweisendes Bekenntnis zur Einheit der Republik auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung und zu einer Politik aus christlichem Geist ab – gegen den Widerstand von Teilen der Geistlichkeit und mächtige monarchistische Strömungen des Zeitgeists. „Zum ersten Male hat der Präsident einer Katholikenversammlung sich erlaubt, der höchsten kirchlichen Ortsautorität eine Rüge zu erteilen“, resümierte die Schlesische Zeitung am 10. September 1922 den Münchener Katholikentag.
Geplant war dieser Katholikentag – so Hans Rauch, Stadtoberbaurat und Vorsitzender des Zentralkomitees in München, in seiner Anfrage an Adenauer – „nach schwerer Kriegszeit im alten großen Rahmen“ und als Demonstration der Einigkeit der deutschen Katholiken. Erst nach mehrmonatigen Beratungen des Zentralkomitees über die Wahl des Präsidenten war der Name des Oberbürgermeisters von Köln, Konrad Adenauer, als der eines Kompromisskandidaten ins Gespräch gekommen. 1906 war dieser als Dreißigjähriger der katholischen Zentrumspartei beigetreten und seit 1917 als Oberbürgermeister tätig. 1921 war er Präsident des Preußischen Staatsrats und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden.
Adenauer nahm das Amt des Katholikentagspräsidenten an und begab sich bereits einige Tage vor Beginn der Veranstaltung nach München – ein Ausweis der hohen Bedeutung, die der viel beschäftigte Politiker der Veranstaltung beimaß. Als Adenauer in München auf den 1921 in den Kardinalsstand erhobenen und sieben Jahre älteren Michael von Faulhaber traf, hatte dieser soeben die Höhe seiner geistlichen Laufbahn erreicht: Der Bäckerssohn aus Heidenfeld war 1892 zum Priester geweiht und anschließend in Theologie promoviert und habilitiert worden; auf Vorschlag des bayerischen Kultusministers wurde er Bischof von Speyer und von Prinzregent Ludwig III. 1913 in den Adelsstand erhoben – seiner Anhänglichkeit an die Monarchie war dieser Umstand sicher nicht abträglich. Im Unterschied zu dem Kaleidoskop heutiger Katholikentage waren diese im 19. und frühen 20. Jahrhundert durchaus gezielt politische Veranstaltungen vor einem religiös definierten Sinnhorizont und Momente politisch-programmatischer Richtungsentscheidungen für das Zentrum, das sich als Honoratiorenpartei auch bei seiner organisatorischen Arbeit katholischer Verbände bediente.
Im Anschluss an die vorhergegangenen Katholikentage 1913 in Metz und – nach kriegsbedingter acht jähriger Unterbrechung – 1921 in Frankfurt am Main stellte Bayern mit dem Königsplatz in München vom 27. bis 30. August 1922 ein repräsentatives Ambiente bereit: Mit Propyläen, Glyptothek und staatlichen Antikensammlungen folgt die Architektur des Platzes dem Stil der klassischen griechischen Baukunst. Als der bayerische König Ludwig I. (1786–1868) ihn ausbauen ließ, sollte er das Vorbild der Akropolis von Athen aufgreifen und die Anmutung eines Tempelbergs erzeugen. Nach Ludwigs städtebaulichen Maßgaben korrespondierten hier – eingebettet in Grün – tempelartige Bauten der Kultur, Religion, Verwaltung und des Militärs miteinander und fassten eine eigenständige, nicht von Straßenkreuzen durchzogene Fläche ein. Die Ausführung der Gesamtanlage wurde zwischen 1848 (dem Jahr des ersten Katholikentags in Mainz) und 1862 unter Maximilian II. umgesetzt und im Westen mit der Errichtung der Propyläen vollendet, die u. a. im August 1922 als Rednertribüne genutzt wurden.
Der Bau orientiert sich am Torbau der Athener Akropolis, dem Propylon. Die Propyläen unterstreichen die architektonische Grundidee einer idealistischen Rezeption der griechischen Antike ohne vorrangige Sachzwecke oder simple Herrschaftsinszenierung. Obwohl das Gebäude auf monarchische Initiative und nicht zuletzt als Ausdruck der Verbundenheit des bayerischen und griechischen Königreichs errichtet wurde, hat es bereits vor Adenauers Apologie der jungen Demokratie einen latenten – vom Erbauer wohl unbeabsichtigten – Bezug zur Demokratie: Die antiken Vorläufer dieser Staatsform sind als eine Errungenschaft griechischer Provenienz mit den von Ludwig I. bewunderten künstlerischen Kulturleistungen der attischen Demokratie nolens volens konnotiert. Die Propyläen widmen sich zudem ausdrücklich dem griechischen Freiheitskampf zwischen 1821 und 1829, in dessen Folge Ludwigs Sohn Otto von den Großmächten zum griechischen König gemacht wurde; er ist das Thema des Giebelreliefs, Gedenktafeln im Inneren verzeichnen Namen griechischer Freiheitskämpfer; aber gerade demokratisch gesinnte Eliten hatten den Kampf um die Unabhängigkeit Griechenlands nach jahrhundertelanger osmanischer Besatzung etwa durch Spenden unterstützt, nicht zuletzt um ihre antimonarchistische Gesinnung kundzutun.
So sprach Adenauer am 27. und 30. August an einem von einer unfreiwilligen Symbolik der Selbstbestimmung des Demos eingefassten Ort zu den vor allem bayerischen Besuchern des 62. Katholikentags. Diese aber waren im vierten Jahr der Weimarer Republik von einer Woge antidemokratischer Stimmung erfasst und jubelten dem fulminanten Redner Kardinal von Faulhaber zu. Faulhaber habe, so Adenauer im Nachgang, eine scharfe politische Note in den eigentlich auf Glaubensfragen konzentrierten Katholikentag gebracht. In der Tat hatte dieser nicht nur der Revolution von 1918, sondern auch der neuen und ersten wirksam gewordenen demokratischen Verfassung auf deutschem Boden die Legitimität abgesprochen, die Gründung der Republik zu einer Art von Eidbruch erklärt und einer Restituierung der Monarchie das Wort geredet. Die Predigt vor der Eröffnungsmesse, die Nuntius Eugenio Pacelli (der spätere Papst Pius XII.) zelebrierte, hatte Faulhaber genutzt, um Öl in das Feuer bajuwarischer Emotionen zu gießen, die sich am Verlust der Selbstständigkeit Bayerns entzündeten und in der Demokratie antichristliche Kräfte am Werk sahen. Anders als im damals besetzten Rheinland war in Bayern für viele die Treue zum katholischen Glauben nicht ohne Treue zum König vorstellbar. Von der reichsweiten Zentrumspartei hatte sich die Bayerische Volkspartei bereits im November 1918 aus einem monarchistischen und stark föderalistischen Impuls heraus abgespalten. Faulhaber vertrat also im Zeitkontext keineswegs eine besonders reaktionäre Position, sondern entsprach der antirevolutionären Tradition einer Kirche, die sich in einem grundsätzlichen Sinne als Bewahrerin verstand. Ein erheblicher Teil des katholischen Klerus fühlte sich dem Bündnis von „Thron und Altar“ nach wie vor verbunden. Dabei hatte der deutsche Katholizismus den Umbruch von 1918/19 und den Abschied von einem Kaiserreich, das Katholiken etwa in öffentlichen Ämtern diskriminierte, im Großen und Ganzen besser verkraftet als die evangelischen Christen.
Die Identifikation der Bayern mit dem Deutschen Reich der Jahre 1871 bis 1918 war nicht zuletzt aufgrund der hier unbeliebten kleindeutschen Lösung ohnehin schwach ausgeprägt, sodass das bayerische Selbstgefühl in den 1920er Jahren noch stark von der Verbindung zur Wittelsbacher Königsfamilie genährt wurde; viele Bayern betrachteten weder das Kaiserreich noch die Republik als ihren Bezugsrahmen. Die Selbstverständlichkeit der aristokratischen Tradition und der Privilegien der Monarchie des Hauses Wittelsbach zeigten sich 1922 in München sehr konkret in der exklusiven Bestuhlung mit roten Sesseln, auf denen der Präsident Adenauer nichtsahnend Platz genommen hatte und die er nach der an ihn gerichteten Frage, ob er „Hoheit“ sei, wieder verlassen musste. Während Teilen der Bevölkerung in Bayern die Einbindung in die Republik widerstrebte und Wünsche nach einem „Süddeutschen Reich“ (zusammen mit Österreich) laut wurden, litt das Rheinland unter der Besatzung der Siegermächte und fürchtete mehrheitlich um die Einheit der Republik. Bei ihrem Zerfall hätte Frankreich seinen Schuldner verloren; eine endgültige Einverleibung des Rheinlands wäre dann als Reparationsersatz unabwendbar geworden. Vor diesem Hintergrund waren Adenauers demokratische Apelle auch Dokumente politisch-pragmatischer Klugheit – nicht allein im Hinblick auf eine konstruktive Rheinlandpolitik, sondern auch auf die von ihm nun rhetorisch heftig geforderte Verantwortung für den Bestand der Republik als Ganze.
Die Existenz der Weimarer Republik war nicht nur durch Inflation und antidemokratische Kräfte, sondern vor allem auch durch separatistische Bewegungen gefährdet. Auch im Rheinland hatte sich mit der Christlichen Volkspartei (CVP) eine Gruppierung vom Zentrum abgespalten. Sie strebte eine Rheinische Republik an, beantwortete jedoch die Frage nach den Konditionen eines möglichen Zusammenhalts mit dem Nationalstaat in sich kontrovers. Unabhängigkeitsbestrebungen unterschiedlichster Intensität und föderaler oder separatistischer Ausprägung gab es nach dem Ersten Weltkrieg zudem in allen Ausrichtungen des politischen Spektrums; potenzierende Wechselwirkungen mit ähnlichen Tendenzen in anderen Teilen des Reichs drohten, den Fortbestand des deutschen Nationalstaats zu unterminieren. Mehrfach bezog Adenauer in seinen Ansprachen die Einheit der deutschen Katholiken auf die Einheit des nun demokratischen Vaterlands und stellte heraus, wie sehr sich beide wechselseitig bedingten. Dies hinderte ihn jedoch nicht, gemeinsam mit dem Bankier Louis Hagen eine verwaltungstechnische Trennung des Rheinlands von Preußen zu erwägen. Er befürchtete wohl eine „Versackung“, d.h. ein stillschweigendes Sich-selbst-Überlassen des Rheinlands mit der Folge einer Übernahme durch Frankreich. Die getrennte Verwaltung sollte keineswegs eine Vorstufe weiterer Separierungen sein, sondern im Gegenteil als Mittel zur Wahrung der Einheit dienen. So mahnte er die Katholiken in München, sich nicht ihren Gefühlen und ihrer Anhänglichkeit an Vergangenes hinzugeben, sondern den politischen Realitäten ins Auge zu sehen, sie zu akzeptieren und an ihnen mitzuwirken, um nicht einer unheilvollen Entwicklung Vorschub zu leisten. Deren Drahtzieher erblickte er in extremistischen, kommunistischen, Bayern betreffend aber vor allem rechtsgerichteten Kreisen, die die Emotionalität vieler Bayern für ihre destruktiven Zwecke zu nutzen suchten. Adenauers Reden nehmen in den Passagen zu diesem Thema beschwörenden Charakter an. Wie bitterernst ihm seine Warnungen waren, wird mit der nach Aktenlage sehr wahrscheinlichen Annahme deutlich, dass er im Nachgang des Katholikentags den Heiligen Stuhl über seine Überlegungen und Sorgen informierte, um ein weiteres Auseinanderdriften der deutschen Katholiken zu verhindern und Faulhaber in politischen Fragen zum Schweigen zu bringen.
Deutlich wird aber in Adenauers Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen des Jahrs 1922 nicht nur die Vehemenz des realpolitischen Impulses und die instinktive Antizipation der innenpolitischen Gefahren der kommenden Jahrzehnte; seine ambitionierte programmatische Position zielte darauf, die Politik des Zentrums im Sinne Heinrich Brauns (Reichsarbeitsminister 1920–1928) für evangelische Christen zu öffnen und auf eine bedingte Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Kräften vorzubereiten. Die Schlussansprache war eine direkte, vermutlich sogar vom Prälaten (und sowohl Faulhaber- als auch Adenauer-Vertrauten) Adolf Donders in geheimen Vorabsprachen leicht abgemilderte Antwort auf Faulhabers Äußerungen und liegt lediglich in mehreren Manuskriptentwürfen vor. Die Eröffnungsansprache des Katholikentagspräsidenten aber folgte einem durchkonzipierten und ausformulierten Manuskript. Inhaltlich zeugte sie von einer großen Empathie mit den hungernden und verzweifelten Menschen vor allem in den Großstädten wenige Jahre nach Kriegsende; Adenauer stellte den Begriff der Barmherzigkeit in den Mittelpunkt und trug so der sozialpolitischen Achillesferse der jungen, unter den Reparationszahlungen des Versailler Vertrags schwer leidenden Republik Rechnung.
Ausführlich und deutlich äußerte er sich zu weltanschaulichen Fragen: „Was wir erleben, ist […] die Götterdämmerung der materialistischen Weltauffassung“, die in den vorausgegangenen 50 Jahren zu einer Ausbreitung nicht christlicher Grundsätze und zu einem Verlust des Sinns für das Geistige geführt hätte. Diese Entwicklung habe den Krieg erst hervorgebracht und nicht etwa die vielfach behauptete Nichtigkeit christlicher Ideale – im Gegenteil sei der „Zusammenbruch Europas ein nicht zu widerlegender Beweis für die unerschütterliche Richtigkeit christlicher Grundsätze. […] [A]lles muß doch neu aufgebaut werden“. Bei dieser grundlegenden Aufbauarbeit könne „die Vertretung der katholischen Ideale gar nicht breit und einheitlich genug sein.“ Adenauer empfand eine Gefahr, die „jederzeit für uns vernichtende Situationen schaffen kann“, und sah einen einzigen politisch wirksamen Weg der Rettung: eine breite, zugleich demokratische und (interkonfessionelle) christliche Bewegung, wie sie sich in den Richtlinien der Zentrumspartei von 1922 manifestiert. In ihnen hatten sich u. a. die 1920 bereits in Essen vorgestellten interkonfessionellen Impulse Adam Stegerwalds niedergeschlagen, die im vorliegenden Band von Egbert Biermann erörtert werden.
In sein Ceterum censeo der Aufforderung zum einheitlichen, konstruktiven Mitwirken schloss Adenauer die anderen christlichen Konfessionen ausdrücklich ein und übte Selbstkritik an einer bisher zu starken Fokussierung auf katholische Positionen. Er versuchte damit, auf eine demokratieförderliche, auf Abstimmung und Kompromiss beruhende Arbeits- und Denkweise einzustimmen. Selbst mit einigen Sozialisten sei ein gemeinsames pragmatisches Engagement möglich. Auch sollten die internationalen Beziehungen der Katholiken stärker gepflegt und ausgebaut werden, um auf ein Verhältnis der Völker zueinander einwirken zu können, das christlichen Grundsätzen entspreche. Diese Grundsätze wie das Gebot aktiver Nächstenliebe müssten, so Adenauer, im Kleinen, „aber auch in öffentlichen Dingen wieder maßgebend werden“.
Er skizzierte ein weit gefasstes christliches Engagement, das die religiöse Überzeugung karitativ und politisch manifestiert. Immer wieder warnte er – auch mit Blick auf die Minderheitenposition der nur etwa ein Drittel der Bevölkerung stellenden Katholiken – vor dem gigantischen Ausmaß der drohenden Gefahren, die interne Abgrenzungsdebatten verböten. Der 1922 historisch bereits entschiedene Antagonismus von Monarchie und Demokratie gefährdete in seinen Augen als Meinungsstreit unter Katholiken die Konzentration auf deren wesentliche Zukunftsaufgabe: die Abwendung sich abzeichnender politischer, ideologischer und humanitärer Katastrophen. So hieß es pointiert in der Schlussansprache: „Ich erblicke in dieser Verschiedenheit [Hinwendung zur Monarchie versus Befürwortung der Demokratie] eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Aktionsfähigkeit der deutschen Katholiken, für ihre Aktionsfähigkeit, die sie bei der Verteidigung ihrer religiösen Grundsätze jetzt mehr denn je nötig haben werden.“ Adenauer war in München ein „Überzeugungstäter“ in wenig wohlgesonnenem Umfeld, erntete nur spärlichen Beifall und widerstand pressewirksam der monarchistisch-antirepublikanischen Aktion, die den Katholikentag als Auftakt zu Demonstrationen ihrer Stärke instrumentalisieren wollte. Seine konfliktträchtigen, aber wegweisenden Reden zeichneten die sozialen, wertkonservativen und konstitutionellen Grundsätze der christlichen Demokratiebewegung vor, wie sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Entfaltung kommen sollten.
Selbst demokratisch gesonnene Zeitgenossen beschrieben Adenauers offene Zuspitzung seines Standpunkts gegenüber Faulhaber als eine protokollarische Grenzüberschreitung, denn er hatte (auch laut „B-Version“ seines Redemanuskripts) in seiner Schlussansprache an den Kardinal gewandt gesagt: „Es verrät Mangel an historischem Blick, die heutige Verfassung verantwortlich zu machen für die heutigen Zustände. Es verrät Mangel an historischem Blick, sie verantwortlich zu machen für die Kämpfe, die uns Katholiken bevorstehen.“ Und wäre die Monarchie, so Adenauer weiter, nicht „morsch und lebensschwach gewesen“, so hätte sie den Sturm der Revolution überdauert. Bei diesen Worten habe Faulhaber, so Augenzeugen, die Versammlung abrupt verlassen wollen, fand aber seinen Hut nicht. Durch die Suche nach der Kopfbedeckung entstand eine Verzögerung, die Adenauer clever nutzte: Er bat den Kardinal um den Schlusssegen – eine Bitte, der sich Faulhaber nicht entziehen konnte und die einen offenen Eklat verhinderte. Dennoch nahm die damals skandalöse Behauptung inkompetenter Urteilsbildung gegenüber dem ranghöchsten deutschen Geistlichen des Katholikentags in der Presse der folgenden Wochen breiten Raum ein.
Wie die programmatischen Linien seiner Rede visionär, so waren Adenauers Warnungen im Hinblick auf die politischen, aber auch ideologisch-ästhetischen Ausformungen des Nationalsozialismus weitsichtig: Nach der Machtergreifung Hitlers wurde München zur „Hauptstadt der Bewegung“ und der Königsplatz (nun „Königlicher Platz“) durch Ehrentempel für die Toten des Hitler-Putschs (1923), Führerbau und Verwaltungsbau der NSDAP umgestaltet; sämtliches Grün wurde entfernt und die Fläche mit Granitplatten aus allen Teilen des Reichs gepflastert. Die historischen Bauwerke wurden den wuchtigen, das „Führerprinzip“ monumental demonstrierenden Neubauten untergeordnet und die Blickachse des Platzes um 180 Grad gedreht.
Der Königsplatz in München ist – schon seinem Namen nach – ein ambivalenter Erinnerungsort der Christlichen Demokratie. Die Vergegenwärtigung der Ereignisse des 62. Katholikentags lässt Empathie, Zukunftsorientierung und Zivilcourage als Voraussetzungen erkennen, ein demokratisches Staatswesen zu gestalten und zu bewahren; zugleich steht dieser Ort für seine Bedrohung durch reaktionäre Kräfte. Erst 1987/88 wurde der Platz annähernd in seinen ursprünglichen architektonischen Zustand zurückversetzt. Spät, aber effektiv hat sich damit seine demokratische Prägung durchgesetzt, die symbolisch unterschwellig bereits in der Architektur des 19. Jahrhunderts vorhanden gewesen war, aber erst durch Adenauers Aufrufe manifest wurde. Heute ist der Königsplatz ein Ort, der an das Ringen um die Demokratie, aber auch an ihre katastrophale Gefährdung erinnert. Adenauer hat die Prinzipien christlicher Politik hier 1922 in demokratischen Grund „eingepflanzt“, die neue Programmatik einer „christlichen Volkspartei“ (Richtlinien der Zentrumspartei 1922) als Ausweg aus den Dilemmata der Weimarer Republik vorgetragen und ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Der Königsplatz symbolisiert daher nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit der Christlichen Demokratie, wenn auch als paradoxer und neuralgischer Punkt innerhalb der ersten, besonders verletzlichen Phase ihrer Genese.
Dieser Artikel erschien zuerst in: Erinnerungsorte der Christlichen Demokratie in Deutschland, Berlin 2020, hg. von Michael Borchard und Judith Michel.
Lingen, Markus: Heinrich Brauns (1868–1939) – Reichsarbeitsministerium und Sozialpolitik in der Weimarer Republik, in: Historisch-Politische Mitteilungen 19 (2012), S. 77–108 (I_IV_Titelei_IVZ.indd (kas.de)(Abruf: 29.01.2020)).
Morsey, Rudolf/Konrad Löw/Peter Eisenmann: Konrad Adenauer. Leben und Werk (Zeitfragen 6). 2. Aufl. München 1977.
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Stehkämper, Hugo: Konrad Adenauer als Katholikentagspräsident 1922 (Adenauer Studien Bd. IV). Hg. von Rudolf Morsey und Konrad Repgen. Mainz 1977.
Tischner, Wolfgang: Nicht nur Ja und Amen. Adenauer und die Kirchen, in: Die Politische Meinung, Sonderausgabe 3 (Juni 2015), S. 80–84.
Tischner, Wolfgang: Von der „Heerschau des katholischen Deutschland“ zur „Kirche in der Welt“ – die Katholikentage von 1848 bis 2016 im Kontext der Stellung des Katholizismus in der deutschen Gesellschaft, in: Karlis Abmeier/Petra Bahr (Hg.): Katholizismus – Eine politische Kraft. Sankt Augustin/Berlin 2016, S. 13–27.
Als Oberbürgermeister der Stadt Köln hat Konrad Adenauer seine Geburtsstadt in Zeiten der deutschen Revolution 1918, der englischen Besatzung bis 1926 und in der Phase der Weimarer Republik modernisiert und ausgebaut.