* geboren 04.02.1897
in
Fürth
† gestorben 05.05.1977
in
Bonn
Dr. rer. pol., Dr. h. c. mult., Nationalökonom, Honorarprofessor, Bundeskanzler, ev.
1919-1925 | Studium der Wirtschaftswissenschaften in Nürnberg und Frankfurt/Main |
1925 | Promotion in Frankfurt/Main bei Franz Oppenheimer |
1928-1942 | Wissenschaftlicher Assistent, Schriftleiter, Mitglied der geschäftsführenden Leitung und Stellvertreter des Leiters am „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware" in Nürnberg |
1942-1945 | Nachkriegsplanungen als Leiter des „Instituts für Industrieforschung" |
1945-1946 | Staatsminister für Wirtschaft in Bayern |
1947-1948 | Leiter der „Sonderstelle Geld und Kredit" zur Vorbereitung einer Währungsreform |
1948-1949 | Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der amerikanischen und britischen Besatzungszonen |
1949-1977 | MdB |
1949-1963 | Bundesminister für Wirtschaft |
1949-1963 | Stv. des Bundeskanzlers |
1963-1966 | Bundeskanzler |
1966-1967 | Bundesvorsitzender der CDU |
1967-1977 | Ehrenvorsitzender der CDU |
Als Begründer der „Sozialen Marktwirtschaft“ zählt Ludwig Erhard zu den herausragenden freiheitlich-demokratischen Reformern, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Mit der Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948 legte er die Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik.
Ähnlich wie die eine Generation jüngere Margaret Thatcher wurde Ludwig Erhard durch eine Jugend „über dem Laden“ geprägt: Seine bikonfessionell verheirateten Eltern waren Anhänger des freisinnigen Parlamentariers und Publizisten Eugen Richter und hatten aus bescheidenen Anfängen in Fürth ein Weißwarengeschäft aufgebaut. Nachdem Erhard die Realschule besucht und eine kaufmännische Lehre in Nürnberg absolviert hatte, unterbrach der Erste Weltkrieg die vorgezeichnete Laufbahn. Durch die Spätfolgen einer Kinderlähmung ohnehin eingeschränkt, wurde Erhard kurz vor Kriegsende noch so schwer verletzt, dass er sich beruflich neu orientieren musste. Ohne Abitur nahm er ein betriebswirtschaftliches Studium an der soeben gegründeten Handelshochschule in Nürnberg auf, wo er wichtige Impulse unter anderem von dem Betriebswirt Wilhelm Rieger erhielt.
Bald darauf heiratete Erhard seine Mitstudentin Luise Schuster, geb. Lotter, die als Kriegerwitwe eine Tochter in die Ehe einbrachte und ihm eine weitere Tochter schenkte. 1922 schloss er das Studium als „Diplom-Kaufmann“ ab und studierte anschließend in Erlangen und in Frankfurt am Main Volkswirtschaftslehre. Er beendete seine akademische Ausbildung 1925 mit einer Promotion bei dem Ökonomen und Soziologen Franz Oppenheimer – einem eigenständigen, vielseitigen Kopf, der das changierende Konzept eines „liberalen Sozialismus“ vertrat.
In den folgenden Jahren schlugen Erhards Bemühungen, das durch die Inflation hart getroffene Familienunternehmen zu stabilisieren, fehl, so dass er sich 1929 wieder der Wirtschaftsforschung zuwandte und in das von Wilhelm Vershofen an der Nürnberger Handelshochschule gegründete „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware“ eintrat. Dort übernahm er schrittweise Leitungsfunktionen und wurde nebenbei 1934/1935 zum Mitgründer der „Gesellschaft für Konsumforschung“. Neben Redaktions-, Lehr- und Akquisetätigkeiten für das Institut war Erhard in diesen Jahren mit Marktanalysen zur in Franken stark verwurzelten Konsumgüterindustrie befasst, im Zuge der um sich greifenden Wirtschaftsplanung der Nationalsozialisten auch mit Strukturanalysen zu anderen Branchen.
Durch seine Gutachten, die sich während des Krieges insbesondere auf die wirtschaftlichen Strukturen in der Saarpfalz und im seit 1940 besetzten Lothringen sowie in den seit 1939 besetzten Gebieten Polens bezogen, hatte Erhard als Auftragnehmer auch mit Behörden des nationalsozialistischen Staats- und Parteiapparats zu tun – so mit dem Gauleiter und Reichsstatthalter Josef Bürckel und mit dem zeitweise als Reichskommissar für die Preisüberwachung und Preisbildung zuständigen Carl Friedrich Goerdeler, der Erhard später in konservativen Widerstandskreisen als wirtschaftspolitischen Ratgeber empfahl. Erhards Verhalten im Nationalsozialismus taugt allerdings weder zu seiner Verklärung als aktiver Widerstandskämpfer noch zu seiner Skandalisierung als amoralischer Profiteur. Er war wie Millionen anderer Zeitgenossen nicht frei von Verhaltensweisen der äußeren Anpassung und des Selbstschutzes, und in seinen Studien hatte er auch manche Rücksichten auf seine industriellen oder staatlichen Auftraggeber zu nehmen. Aber an seiner wachsenden inneren Distanz zum Nationalsozialismus kann kein Zweifel bestehen. Dafür steht insbesondere ein wiederholt kritisch durchleuchteter Vorbericht aus dem Juli 1941 zur „Wirtschaft des neuen deutschen Ostraumes“: Die dazu überlieferte Kurzfassung, erstellt durch die Haupttreuhandstelle Ost des Beauftragten für den Vierjahresplan, legte offen, dass Erhard für eine gute Behandlung der polnischen Arbeitskräfte warb und die wirtschaftliche Lage der polnischen Bevölkerung zu verbessern empfahl. Mit provozierender Selbstsicherheit, vielleicht auch mit gefährlicher Unbekümmertheit, unterlief Erhard in der Rolle des strikt ökonomisch argumentierenden Fachmanns hier die an ihn gerichteten Erwartungen der nationalsozialistischen Volkstumspolitik, die auf eine rücksichtslose Germanisierung der polnischen Gebiete abzielte.
Da er den Beitritt zu nationalsozialistischen Organisationen verweigerte, kamen für Erhard weder eine Habilitation mit anschließender Hochschulkarriere noch die Nachfolge Vershofens als Institutsleiter in Betracht. So schied er 1942 im Unfrieden aus dem Institut aus. Mit finanzieller Unterstützung der von seinem Schwager Karl Guth geführten „Reichsgruppe Industrie“ baute er ein kleines „Institut für Industrieforschung“ auf, dass nach dem Krieg zu einer der Vorläuferinstitutionen des 1949 gegründeten „ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung“ werden sollte. Seine wesentliche Aufgabe bestand darin, für die Industrie relevante Planungen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Krieg zu skizzieren. Wichtigster Ertrag dieser Auftragsarbeiten war die im Frühjahr 1944 fertiggestellte Studie „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“. In seinem weiteren Arbeitsprogramm ging er von der notwendigen Lockerung der kriegswirtschaftlichen Preisbindungen aus. Solche Überlegungen zu einer Friedenswirtschaft, die stillschweigend die sich immer klarer abzeichnende totale Niederlage voraussetzten, waren offiziell streng untersagt, wurden aber vom Reichswirtschaftsministerium gutgeheißen. Erhard führte in diesem Zusammenhang im November 1944 ein kurzes Gespräch mit dem stellvertretenden Staatssekretär und SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, der in scharfer Konkurrenz zu Rüstungsminister Albert Speer marktwirtschaftlichen Überlegungen gegenüber aufgeschlossen war. Diese Episode blieb angesichts des baldigen Kriegsendes folgenlos, aber sie wirft zumindest ein Schlaglicht auf die Kontinuitätslinien, die es von dem alten Reichswirtschaftsministerium und der „Reichsgruppe Industrie“ in das künftige Bundeswirtschaftsministerium durchaus geben sollte – nicht nur in personeller, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht, wenn man bedenkt, dass manche Teile der nationalsozialistischen Wirtschaftsgesetzgebung noch jahrzehntelang als wettbewerbswidrige Sonderregeln in der Bundesrepublik weitergalten.
Was Erhards intellektuelle Biographie betrifft, so ist allerdings augenfällig, wie sehr sein ökonomisches Denken in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Planwirtschaft und Kriegsfinanzierung zu einem marktwirtschaftlichen Credo reifte und auch an politischer Qualität und Konsequenz gewann. Ausgehend von eher praktischen Perspektiven der Betriebswirtschaftslehre und der Marktforschung, festigte sich sein ordnungs- und wettbewerbspolitisches Denken auf recht eigenständigen Wegen. Erst nach 1948 wurden die persönlichen Verbindungen zu anderen Protagonisten des sich formierenden Neoliberalismus enger. Als der Krieg zu Ende ging, stand für Erhard außer Frage, dass eine Ordnung der Freiheit nicht nur die bestmöglichen Bedingungen für die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern aller Art bot, sondern auch die notwendige Voraussetzung für die Würde und Selbstachtung des Menschen war.
Nach Ende des Krieges bot sich Erhard den amerikanischen Besatzern in seiner Heimatstadt Fürth als Berater an. Bereits im September 1945 wurde er von diesen überraschend als Wirtschaftsminister für die bayerische Staatsregierung unter dem Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner ausgewählt. Mangels parteipolitischer Verankerung – die CSU sollte der protestantische Franke zeitlebens als politische Heimat meiden – schied er jedoch bereits nach der ersten Landtagswahl im Dezember 1946 aus der nun parlamentarisch gebildeten Staatsregierung aus. Folgenreicher als seine kompensatorische Berufung zum Honorarprofessor durch die Ludwig-Maximilians-Universität München war im September 1947 die Ernennung zum Leiter der neugeschaffenen Sonderstelle „Geld und Kredit“, die im vereinigten Wirtschaftsgebiet der amerikanischen und der britischen Besatzungszone die Vorbereitung der unumgänglichen Währungsreform begleitete.
Schon im März 1948 folgte die Wahl zum Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone – mit einer knappen, aber wegweisenden Mehrheit auf Vorschlag von CDU und FDP, gegen den Widerstand der SPD. In dieser Funktion zeichnete Erhard verantwortlich dafür, dass die von langer Hand geplante Währungsreform vom 20. Juni 1948 durch die Freigabe vieler Preise im Handstreich um eine freiheitliche Wirtschaftsreform ergänzt wurde. Nach der jahrelang „zurückgestauten Inflation“ (Wilhelm Röpke) schnellten notwendigerweise viele Preise für knappe Güter hoch, so dass Erhard viel Skepsis und erbitterter Widerstand entgegenschlugen. Aber selbst ein von den Gewerkschaften angezettelter Generalstreik brachte ihn nicht ins Wanken. Mit charakteristischer Selbstsicherheit hielt er an dem eingeschlagenen Kurs fest und verteidigte ihn gegen planwirtschaftliche Vorstellungen, wie sie sowohl in der SPD als auch in den Unionsparteien verbreitet waren.
Entscheidend für die weitere Entwicklung war, dass der Vorsitzende der CDU der britischen Zone, Konrad Adenauer, den zur politischen Reizfigur aufgestiegenen Erhard mit strategischem Kalkül an seine Partei band und die bis dahin wirtschaftsethisch dahinschlingernde Union auf dessen liberale Politik verpflichtete. Damit war für die folgende Bundestagswahl die Hauptkampflinie festgelegt und die Bildung einer bürgerlichen Koalition anvisiert. Als das knappe Wahlergebnis dies zuließ, übernahm Erhard, der im Wahlkampf zugkräftiger als Adenauer selbst gewesen war, konsequenterweise das Wirtschaftsministerium. In diesem Amt wuchs er nach dem historischen Wahlsieg der Union von 1957 in die Rolle des Vizekanzlers und des unumgänglichen Kronprinzen hinein, so sehr Konrad Adenauer dies auch zu verhindern suchte. Adenauer und Erhard wirkten in der frühen Bundesrepublik als komplementäre Leitfiguren zusammen, konnten aber – der politische Fuchs hier, der idealistische Missionar dort – kaum gegensätzlicher sein. Erhard litt unter den Zurechtweisungen Adenauers, bot ihm aber auch wie kein anderer Minister immer wieder die Stirn.
Auch abgesehen von den Querelen mit Adenauer verlief Erhards Ministerkarriere keineswegs geradlinig und zwangsläufig. Bereits die Korea-Krise 1950 brachte ihn an den Rande des Rücktritts und hätte damit auch leicht das tollkühne Experiment der „Sozialen Marktwirtschaft“ beenden können. Politische Niederlagen und Misserfolge blieben Erhard auch in der Folgezeit nicht erspart, so etwa bei der Rentenreform 1957. Insgesamt erwies er sich jedoch als bemerkenswert durchsetzungsfähig und ausdauernd im Eintreten für seine politischen Ziele. Nach der Abschaffung der allermeisten Preisbindungen waren ungeachtet manch wässriger Kompromisse die Schaffung einer unabhängigen und der Geldwertstabilität verpflichteten Bundesbank, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die finanzpolitische Selbstdisziplin, die außenwirtschaftliche Integration der Bundesrepublik in den Welthandel oder die Etablierung einer auf Vermögensbildung setzenden Sozialpolitik wichtige Wegmarken für die Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen. Dass die europäische Integration sich nicht in einer supranationalen Planwirtschaft für den Agrarsektor sowie für die Kohle- und Stahlindustrie erschöpfte, sondern auch freiheitliche Ansätze zur Schaffung eines echten Binnenmarktes umfasste, war nicht zuletzt Erhards Verdienst. Mit hohen Wachstumsraten und der Schaffung von Vollbeschäftigung löste Erhard den von ihm reklamierten Anspruch auf „Wohlstand für alle“ – so der Titel seines Bestsellers aus dem Jahre 1957 – so erfolgreich ein, dass er in seinen späten Jahren vom umjubelten „Vater des Wirtschaftswunders“ in die wesentlich undankbarere Rolle desjenigen geriet, der überbordende Ansprüche von Interessengruppen an den Staat abwehren und vor steigendem Materialismus und finanzpolitischer Sorglosigkeit warnen musste.
Der von Adenauer mehrfach hinausgezögerte Kanzlerwechsel im Herbst 1963 wurde von vielen Beobachtern als Wegmarke der Stabilisierung und Bewährung der jungen Bundesrepublik wahrgenommen. Sein Nachfolger Erhard verhieß einen versöhnlicheren und dialogorientierten Regierungsstil als Adenauer und strebte in die Rolle eines „Volkskanzlers“, der sich von der Macht der Parteien und Interessenverbände nicht vereinnahmen ließ. Stattdessen setzte er auf direkte Kommunikation mit der Bevölkerung und auf Vernunft und Verständigung – versinnbildlicht in dem lichtdurchfluteten, durch klare Linien strukturierten Bungalow, den er von Sep Ruf im Park des Kanzleramtes errichten ließ.
Allerdings stand seine Kanzlerschaft unter keinem guten Stern: Unerledigte innenpolitische Dossiers der späten Adenauer-Jahre, Kabale und Diadochenkämpfe innerhalb der Union, die zunehmende Entfremdung zwischen Union und FDP, die Läuterung der SPD zu einem für die beiden bürgerlichen Parteien attraktiven Koalitionspartner, außenpolitische Orientierungskonflikte zwischen frankophilen „Gaullisten“ wie den beiden Parteivorsitzenden Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß auf der einen Seite und anglophilen „Atlantikern“ wie Außenminister Gerhard Schröder und Erhard selbst auf der anderen Seite, erratische Entscheidungen der amerikanischen und erst recht der französischen Außenpolitik im Kontext der Nuklearpolitik, die Entkopplung der offenen „deutschen Frage“ von den weltpolitischen Detente-Tendenzen zwischen den USA und der Sowjetunion, intellektuell-kulturelle Umbrüche in der bundesrepublikanischen Gesellschaft am Vorabend von „68“, konjunkturelle Krisensymptome und nicht zuletzt die wachsende Dominanz des keynesianischen Paradigmas einer interventionsfreudigen und spendablen Wirtschafts- und Sozialpolitik boten hinlängliche Ursachen dafür, dass Ludwig Erhards Kanzlerschaft trotz eines fulminanten Siegs bei der Bundestagswahl 1965 schnell zerrann. Ihm selbst gelang es nicht, mit dem durchaus gehaltvollen, aber unglücklichen Begriff der „formierten Gesellschaft“ eine zündende Leitidee für seine Kanzlerschaft zu stiften. Auch die verspätete und eher lustlose Übernahme des Vorsitzes der CDU im März 1966 stabilisierte ihn nicht. Da er persönlich auf die an inneren Spannungen leidende Koalition mit der FDP festgelegt war, war seine Rolle ausgespielt, als die Koalition im Oktober 1966 an vergleichsweise geringfügigen Haushaltsproblemen zerschellte.
Gleichwohl sind seiner kurzen Kanzlerschaft auch einige Erfolge zuzurechnen: In außen- und deutschlandpolitischer Hinsicht zählten dazu die ersten Passierscheinabkommen mit der DDR nach dem Mauerbau, die Eröffnung von Handelsmissionen in mehreren osteuropäischen Staaten, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel und schließlich die sogenannte „Friedensnote“ vom März 1966, die ohne Preisgabe des Wiedervereinigungsziels Verständigungsmöglichkeiten mit den osteuropäischen Staaten aufzeigte.
Innenpolitische Erfolge erzielte Erhard unter anderem mit der weiteren Privatisierung bundeseigener Unternehmen, mit dem Ausbau der Vermögensbildung für Arbeitnehmer oder mit neuen Impulsen für eine Bildungs- und Forschungspolitik des Bundes. Für die kulturelle Selbstverständigung der Bundesrepublik bedeutsam waren prominente Prozesse um NS-Kriegsverbrechen und die daran anknüpfende Diskussion um die Verjährung der damit verbundenen Straftaten. Wichtige Vorüberlegungen zur Reform der Finanzverfassung und der Notstandsverfassung, zum Stabilitätsgesetz, zur Reform des Sozialstaats oder zur Flexibilisierung der Ostpolitik wurden bereits in der Kanzlerschaft Erhards angestellt und flossen teilweise in die Politik der nachfolgenden Großen Koalition ein. Allerdings stellte insbesondere das 1967 beschlossene Stabilitätsgesetz mit seinem makroökonomischen Steuerungsanspruch eine markante und dauerhafte Abkehr von Erhards Konzeption dar. Nach seinem erzwungenen Rücktritt als Kanzler und Parteivorsitzender blieb Erhard als Ehrenvorsitzender der CDU und als Mitglied, ab 1976 auch als Alterspräsident des Deutschen Bundestages, sowie als Gründer einer nach ihm benannten Stiftung politisch und publizistisch präsent, bevor er am 5. Mai 1977 an den Spätfolgen eines Verkehrsunfalls starb.
Leben, Werk und Vermächtnis Ludwig Erhards werden seit 2018 in einer überzeugenden Dauerausstellung in seiner Heimatstadt Fürth reflektiert. Wie kaum ein zweiter Politiker der Bundesrepublik wurde er schon zu Lebzeiten zum Mythos stilisiert. Mit rundlichen Gesichtszügen, sonorem fränkischen Tonfall, optimistischem Naturell und der fast unvermeidlichen Zigarre gilt er bis heute als popkulturelle Ikone des wirtschaftspolitischen Erfolgs der Bundesrepublik. Wirtschaftspolitiker aller Parteien berufen sich auf ihn und beanspruchen sein geistiges Erbe. Allerdings war Erhard seit Beginn seiner politischen Karriere auch zahllosen Anfechtungen ausgesetzt, die bis heute nachklingen. Kritisch diskutiert wurde etwa seine Rolle im Nationalsozialismus, ohne dass bislang eine sorgfältig gearbeitete Biographie alle relevanten Quellen erschlossen und verständig eingeordnet hätte. Ebenso wurden die Originalität und Substanz seines Denkens bezweifelt und sein Führungsstil als defizitär wahrgenommen. Bisweilen wurde aus marktskeptischer Warte auch die grundsätzliche Bedeutung der von Erhard zu verantwortenden Ordnungsentscheidungen in Frage gestellt und stattdessen als Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre die Notwendigkeit des Wiederaufbaus (sog. „Rekonstruktionsthese“) bzw. die Marshallplan-Hilfe angeführt.
Noch am ehesten verfängt von all diesen Kritiken der Vorwurf der mangelnden Eignung Erhards für das politische Geschäft. Macht ödete ihn an, sie bedeutete ihm nichts. Er war aus viel weicherem Holz als Adenauer geschnitzt und ohne jedes Talent für politische Intrigen. Inspiriert von einer politischen Mission, für die er mit offenem Visier eintrat, gab er sich bei Kompromissen auch manche Blößen. Erhard war ein politischer Aufklärer, der zeitlebens mit den Mechanismen und Triebkräften des Parteienwettbewerbs und der organisierten Interessenvertretung haderte. Als Kanzler setzte er auf Diskussion im Kabinett und ließ sich auch überstimmen, ohne mit der Wahrnehmung seiner Richtlinienkompetenz zu drohen. Der machtskeptische Politikstil, der ihn als Wirtschaftsminister wirkmächtig werden ließ, half dem Kanzler im Bonner Haifischbecken nicht. Parteipolitische Machtressourcen pflegte und nutzte er nicht. Bezeichnend dafür waren anhaltende Spekulationen über seine Mitgliedschaft in der CDU: Vermutlich wurde seine Parteizugehörigkeit gemäß den damaligen Usancen einer organisationsschwachen Honoratiorenpartei und in Ermangelung eines förmlichen Beitrittsgesuchs einfach stillschweigend unterstellt.
In vielen Darstellungen zur Ideengeschichte der Sozialen Marktwirtschaft bleibt Erhards eigener Anteil neben demjenigen von ausgewiesenen Theoretikern wie Walter Eucken, Franz Böhm, Alfred Müller-Armack oder Wilhelm Röpke seltsam blass. Dabei war er wie kein anderer Kanzler aufgeschlossen für intellektuelle Beratung und ließ in seinem Umfeld kritisch-eigenständige Geister zu. Jedoch war er kein bloßer Vollstrecker der Ideen anderer, sondern ein durchaus eigener Kopf. Was Erhard von vorwiegend theoretisch interessierten Nationalökonomen unterschied, war neben einem betriebswirtschaftlich geprägten und verbraucherorientierten Marktbegriff der Anspruch auf eine praktikable politische Konzeption, die bei Festigkeit im Ziel geschmeidig und ausdauernd in den alltäglichen Entscheidungen war – beispielsweise in Gestalt einer recht aktiven und feinnervigen Konjunkturpolitik.
Den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ hat Erhard nicht erfunden, aber als Slogan für seine Politik angenommen. Darunter verstand er keine Vermengung von an sich miteinander unvereinbaren Ordnungsprinzipien. Mit der begrifflichen Erweiterung der Marktwirtschaft um das „Soziale“ ist bei Erhard keine Relativierung des Marktes durch eine vermeintlich höhere Moral einer „sozialen Gerechtigkeit“ gemeint, sondern das Plädoyer für eine weit über den Markt hinausreichende, in sich kohärente Gesellschaftsordnung der Freiheit. Während Planwirtschaft und Interventionismus den Menschen zum Untertanen und Bittsteller machen, gewährt ihm eine Ordnung der Freiheit neben Wohlstand auch Würde, Mündigkeit und die Möglichkeit zur Selbstentfaltung. Eine versteckte Stelle aus den maßgeblich von Franz Etzel formulierten „Düsseldorfer Leitsätzen“ von 1949 komprimiert sein Denken vielleicht am treffendsten: „Die ‚soziale Marktwirtschaft‘ ist diejenige Ordnung, welche die Ausrichtung der Erzeugung auf die wirklichen Wünsche der Verbraucher und die billigste Versorgung des Gesamtbedarfs mit dem geringsten Aufwand an politischer und gesellschaftlicher Macht gewährleistet.“
Seine machttechnischen Defizite kompensierte Erhard mit der „Macht einer Botschaft“ (Klaus Hildebrand). Gerade weil er weder „Nur-Wissenschaftler“ noch „Nur-Politiker“ war, sondern eine theoretisch unterfütterte, aber zugleich praxistaugliche Konzeption verfolgte, wirkte er über den Horizont seiner eigenen Tage hinaus. Als unzeitgemäßer, in vielerlei Hinsicht einsamer Reformer erlangte Erhard aus bescheidenen und unsicheren Anfängen eine historische Größe, die in der deutschen Geschichte am ehesten mit derjenigen des Freiherrn vom Stein oder von Wilhelm von Humboldt vergleichbar ist.
Innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft, die Adenauer mit Wirtschaftsminister Ludwig Erhard einführt, müssen wirtschaftspolitische Entscheidungen stets flexibel ausgehandelt werden.
ACDP, 01-554
Geppert, Dominik/Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und die Soziale Marktwirtschaft. Bearbeitet von Holger Löttel. Paderborn u.a. 2019.
Hentschel, Volker: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben. München 1996.
Hohmann, Karl (Hg.): Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Reden und Schriften. Düsseldorf u.a. 1988.
Koerfer, Daniel: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer. Stuttgart 1987.
Laitenberger, Volkhard: Ludwig Erhard. Der Nationalökonom als Politiker. Göttingen u.a. 1986.
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Mierzejewski, Alfred C.: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin 2005.
Wünsche, Horst Friedrich: Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft. Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen. Reinbek/München 2015.
Siehe auch "Quellensammlung Soziale Marktwirtschaft".