Rhöndorfer Ausgabe Online
Aktennotiz über ein bizonales CDU/CSU-Treffen in Stuttgart
StBKAH 08.06, Druck mit geringfügigen Abweichungen und Auslassungen: Hans Georg Wieck, Christliche und freie Demokraten, S. 190f.; Walter Berberich, Die historische Entwicklung der Christlich-Sozialen Union in Bayern, S. 197f.; Teildruck: Werner Conze, Jakob Kaiser, S. 78f.
Vgl. hierzu das Schreiben an die Teilnehmer eines bizonalen CDU/CSU-Treffens in Stuttgart vom 8.4.1946
Am 3.4.1946 sind in Stuttgart zu einer Besprechung zusammengetreten die folgenden Herren:
für die CDU Großhessen: Minister Dr. Hilpert,
für die CDU Nord-Baden: stellvertr. Ministerpräsident Köhler,
für die CDU Württemberg: Minister Andree, die Herren Ersing und Simpendorfer[!],
für die Christlich-Soziale-Union Bayern: Dr. Müller, Botschafter von Prittwitz,
für die CDU der britischen Zone: Dr. Adenauer und Oberpräsident Steltzer.
Nach eingehender Aussprache über die Prinzipien und die grundlegenden Forderungen der verschiedenen Parteien wurde folgendes beschlossen: Die Christlich-Soziale Partei Bayerns, die CDU Württemberg, Nordbaden, Großhessen, vereinigen sich zu einer Partei, die den Namen »Christliche Union« führen wird. Die CDU der britischen Zone wird ebenso wie die Christliche Union der amerikanischen Zone bei den entsprechenden militärischen Stellen die Zustimmung dazu nachsuchen, daß sie sich zu einer Partei zusammenschließen. Alle Anwesenden waren sich darin einig, daß alles geschehen soll, damit die CDU Berlins und der russischen Zone ebenfalls sich mit den Parteien der übrigen Zonen zusammenschließen solle, daß aber der Sitz der künftigen Parteileitung nicht Berlin oder ein Ort der russischen Zone sein dürfte. Man war sich auch darüber einig, daß trotz der großen Bedeutung, die eine Lösung der Ostfrage in einer für Deutschland erträglichen Weise hat, Berlin auch dann nicht Sitz der Parteileitung für ganz Deutschland sein würde, wenn Berlin nicht von den Russen usw. besetzt wäre. Man war sich weiter darin einig, daß man danach streben müsse, einen Ort zum Sitz der Parteileitung zu machen, der etwa in der Mainlinie liege. Da Dr. Adenauer mitteilte, daß Herr Jakob Kaiser, Berlin, ihn vor seiner Rückkehr nach Berlin aufsuchen würde, wurde er ersucht, Herrn Kaiser die obigen Beschlüsse mitzuteilen. Er wurde weiter ersucht, Herrn Jakob Kaiser mitzuteilen, daß trotz der größten Hochachtung vor seiner Person und der Mannhaftigkeit, mit der er auf seinem schweren Posten ausharre, die Anwesenden sich nicht einverstanden erklären könnten mit verschiedenen Sätzen, die Herr Kaiser in der letzten Zeit in öffentlichen Reden programmatisch ausgesprochen habe oder die in dem von der CDU-Leitung Berlin herausgegebenen Material enthalten seien. Es wurden insbesondere in dieser Hinsicht folgende Ausführungen angeführt, mit denen man nicht einverstanden sei:
1) auf deutschem Boden bezw. in Berlin müsse eine Synthese zwischen Ost und West erfolgen,
2) die bürgerliche Epoche sei zu Ende,
3) das kommunistische Manifest sei eine Großtat.
Dr. Adenauer wurde weiter ersucht, Herrn Jakob Kaiser als einstimmige Ansicht der Versammelten mitzuteilen, daß Ausführungen wie: »Wir sind sozial« oder »Christlicher Sozialismus«1 nicht am Platze seien. Es handele sich dabei nach der Ansicht der Anwesenden um Schlagworte ohne besonderen Inhalt, die aber geeignet seien, Verwirrung und tiefgehende Meinungsverschiedenheiten unter den Anhängern der CDU bezw. der Bayerischen Christlich Sozialen Union hervorzurufen. Alle Anwesenden waren sich darin einig, daß es absolut notwendig sei, ein sozialpolitisches Programm zu entwickeln, das sowohl den Interessen der Allgemeinheit wie den berechtigten Ansprüchen der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber gerecht wird. Von den süddeutschen Herren wurde erklärt, daß bei ihnen auch in dieser Hinsicht umfangreiche Vorarbeiten vorlägen. Von Seiten der CDU der britischen Zone wurde mitgeteilt, daß auf der Tagesordnung der nächsten Tagung des Zonenausschusses die Wahl eines Ausschusses zur Entwicklung eines sozialpolitischen Programms stehe.
Herr Dr. Adenauer wurde weiter von allen Anwesenden beauftragt, Herrn Jakob Kaiser mitzuteilen, daß eine Beschickung des von der CDU Berlin für die nächste Zeit vorgesehenen Parteitages durch Vertreter der CDU in den anderen Teilen Deutschlands für unerwünscht gehalten werde, weil man sich nicht der Gefahr aussetzen dürfe, in der Atmosphäre der russischen Zone zu Beschlüssen zu kommen, die vom Standpunkt der Parteien der übrigen Zonen aus unerwünscht seien, und weil man auch nicht den Schein hervorrufen dürfe, als ob in der russischen Zone ein für sämtliche Parteien maßgebender Tag abgehalten würde.
Dem hier erstmals verwendeten Begriff des ›Christlichen Sozialismus‹ – dem ideologischen Kernbegriff weitreichender sozialer und wirtschaftlicher Reformpläne im politischen Katholizismus nach 1945 – sind zahlreiche Studien gewidmet worden, so vor allem von Bernd Uhl (Die Idee); Franz Focke (Sozialismus) und, unter besonderer Berücksichtigung der langandauernden publizistischen und wissenschaftlichen Diskussion, Rudolf Uertz (Christentum); vgl. a. Rolf Wenzel, Wirtschafts- und Sozialordnung, S. 318-329. Zur inhaltlichen Auseinandersetzung Adenauers mit dem ›christlichen Sozialismus‹ und seinen Hauptvertretern vgl. die Schreiben an Robert Pferdmenges vom 22.4.1946, an Pater Provinzial Laurentius Siemer vom 25.5.1946 und an Maria Sevenich vom 26.5.1946.