Hanns Jürgen Küsters
Adenauer sah in dem Kalten Krieg einen Machtkampf zwischen der Sowjetunion und den freien Völkern des Westens. Seine Strategie beruhte auf einer bewussten Konfrontationspolitik, um so die Existenz der Bundesrepublik und den Zusammenhalt des westlichen Lagers zu sichern. Ausgangspunkt war die Forderung an die Sowjetunion nach Verzicht auf Expansion und Aufgabe ihrer ideologischen Weltherrschaftspläne. Für ihn war der innere Zerfall des Sowjetimperiums nur eine Frage des Wann, nicht des Ob.
Adenauer begriff den Kalten Krieg als Machtkampf zwischen der Sowjetunion und den freien Völkern des Westens. Ausgangspunkt waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Machtzuwachs der Vereinigten Staaten von Amerika, der Machtverlust Preußens und Deutschlands und der Niedergang des britischen Empires und Frankreichs, die zu erheblichen Machtverschiebungen unter den Großmächten führten. Der Zweite Weltkrieg zerstörte das Gleichgewicht Europas und ermöglichte der Sowjetunion als Folge der Eroberungen die Ausdehnung ihres Einflussgebietes bis nach Mitteldeutschland. Durch gesteuerte Revolutionen ergriffen die Kommunisten in den osteuropäischen Staaten die Macht, vernichteten deren Souveränität und erreichten weiteren Machtzuwachs ohne Kampfeinsatz eines einzigen Soldaten.
Eine zweite Ursache für den Kalten Krieg sah Adenauer in den unterschiedlichen ideologischen Auffassungen zwischen gleich starken Gegnern. Drei Triebkräften sowjetischer Politik gab er die Schuld: dem durch Panslawismus, Marxismus und die Revolution von 1917 fundierten Expansionsdrang, dem Bolschewismus, der in russischer Spielart eine Mischung aus Kommunismus und Nationalismus darstellte, und der fast psychopathischen Angst der sowjetischen Führer vor Einkreisung von Seiten der kapitalistischen Staaten.
Eine weitere Konfliktquelle bildeten aus Adenauers Sicht die sich rasch ändernden militärischen Kräfteverhältnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Westmächte begingen in ihrer Gutgläubigkeit einige katastrophale Fehler, die zur Eskalation des Kalten Krieges beitrugen. Während die westlichen Länder zwischen 1945 und 1950 abrüsteten, blieb die Sowjetunion stark bewaffnet und machte von ihrer militärischen Überlegenheit rücksichtslos Gebrauch. Mit ihrer Abrüstung hatten die Westmächte Stalin geradezu eingeladen, sich die Satellitenstaaten anzugliedern. Die Vereinigten Staaten begnügten sich wegen des alleinigen Besitzes von Nuklearwaffen mit der wirtschaftlichen Unterstützung Europas. Sie verkannten, dass ihre Überlegenheit nur von begrenzter Dauer sein konnte, und unterschätzten die sowjetische Überlegenheit bei konventionellen Waffen. Schon mit Gründung der NATO 1949 hatte sich die Intensität des Kalten Krieges verschärft. Doch erst nach dem Ausbruch des Korea-Krieges 1950 fand in Adenauers Augen bei den Amerikanern ein wirklicher Umdenkungsprozess statt. Die Kämpfe in Indochina, Umsturzversuche auf den Philippinen, Indonesien, Siam, Burma, der Dschungelkrieg in Malaysia und Machtkämpfe in Persien gaben den Kommunisten Auftrieb.
Adenauer war überzeugt, letzten Endes wolle die Sowjetunion durch den Kalten Krieg die westlichen Demokratien liquidieren, militärische und wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber den Vereinigten Staaten und Rot-China erlangen und ihre Hegemonie über ganz Europa und weltweit festigen. Gegenüber der Bundesrepublik verfolgte die Sowjetunion aus Adenauers Sicht eine Doppelstrategie: nämlich das Fernziel, die Bundesrepublik in den sowjetischen Machtbereich einzubeziehen, und das Nahziel, mit allen Mitteln zu verhindern, dass ihr kriegsrelevantes Potenzial gegen die Sowjetunion eingesetzt wird. Das könne sie auf dreierlei Weise verhindern: Zum einen durch plötzlichen Überfall und Vernichtung der Bundesrepublik. Adenauer glaubte, die Sowjets würden jedoch nur im äußersten Fall zu diesem Mittel greifen, weil auch sie Geduld hätten und die fundamentale Zerstörung ihren eigentlichen deutschlandpolitischen Zielen widerspräche. Zum anderen, indem sie ihren politischen Druck auf die Bundesrepublik verstärkten, entweder über die Führung der DDR oder durch Neutralisierung Deutschlands, was ihr in kurzer Zeit dominierenden Einfluss bescheren würde. Der Satellitengürtel diente folglich nicht dem eigenen Schutz, sondern als Operationsgebiet gegen die Bundesrepublik. Bei einer Neutralisierung wäre der europäische Einigungsgedanke erledigt. Als dritte Option kam die Unterminierung der Bundesrepublik mit Hilfe der fünften Kolonne in Betracht.
Adenauers Strategie richtete sich auf drei Ziele: Zuallererst ging es ihm darum, durch Eindämmung sowjetischer Expansionsbestrebungen die Existenz Deutschlands zu sichern. Zweitens galt es, in der ideologischen Auseinandersetzung die in der Bundesrepublik neu etablierte westlich-parlamentarische Demokratie zu erhalten. Dialektischer Materialismus und Kommunismus waren für Adenauer gleichbedeutend mit Unterdrückung und Gewaltherrschaft einer kleinen Schicht. Sein Widerstand gegen den Kommunismus entsprang der Kampfansage des Materialismus an die christliche Lehre des Abendlandes und seinem republikanischen Demokratieverständnis. Drittens arbeitete Adenauer gemeinsam mit den Westmächten daran, die kommunistischen Herrscher entweder friedlich in einem gewaltlosen Akt zur Änderung ihres Handelns zu bewegen oder durch Förderung des Umsturzes sie zu entmachten und einen Systemwechsel herbeizuführen. Dabei war ihm außer Gewalteinsatz jedes andere politische Mittel bis hin zu Embargo- und Propagandamaßnahmen recht, wenn sie sich als tauglich erwiesen.
Adenauer verfolgte eine Konterstrategie mit drei Zielen: Erstens durchkreuzte er mit der Westintegrationspolitik die sowjetische Europastrategie, den politischen und militärischen Schwebezustand Deutschlands aufrecht zu erhalten und den europäischen Einigungsprozess zu verhindern. Zweitens erhielt die Bundesrepublik durch die Westbindung eine gewisse Garantie, dass ihr Industriepotenzial nicht der Sowjetunion anheim fiel. Denn die Sowjets hintertrieben den deutschen Verteidigungsbeitrag nicht aus wirklicher Angst vor den Deutschen. Vielmehr wollten sie sich die Möglichkeit offenhalten, die Bundesrepublik in die eigene Einflußsphäre einzubeziehen. Darin sah Adenauer den wahren Grund für ihre Forderung nach Neutralisierung Deutschlands. Drittens wollte Adenauer durch Zusammenschluss der Verteidigungskräfte Westeuropas und der Vereinigten Staaten das sowjetische Expansionsstreben aufhalten. Es werde dann nämlich gefährlich, einen Krieg mit den USA anzuzetteln. Je stärker das westliche Bündnis militärisch war, desto besser die Eindämmung.
Vehement widersprach er der Behauptung, Westintegration und militärische Stärke des Westens provozierten die Sowjetunion, zum heißen Krieg überzugehen. Neben der Eindämmungspolitik spielte die Politik der Demoralisierung und die Erwartung des inneren Zerfalls der Sowjetunion eine zentrale Rolle in Adenauers strategischen Überlegungen. Jeder Schritt zur Einigung Westeuropas bedeute eine weitere verlorene Hoffnung auf die sowjetische Weltherrschaft. Die wirksamste Waffe blieb jedoch die Politik westlicher Stärke. Für Adenauer bedeutete sie nicht allein militärische Aufrüstung, sondern manifestierte sich zuallererst „in der Einigkeit des Westens" und folglich in der Ausschaltung der Möglichkeit der Sowjetunion, sich einen Staat nach dem anderen einzuverleiben.
Seit Herbst 1952 vertrat Adenauer die These von der gescheiterten Expansion als Voraussetzung sowjetischer Verhandlungsbereitschaft. Totalitäre Staaten modifizieren ihr Verhalten nur, wenn sie davon überzeugt sind, dass der Gegner mit subversiven und revolutionären Methoden nicht zu besiegen und eine Ausdehnung nach Westen nicht zu realisieren ist. Erst dann zeigen sie sich verhandlungsbereit.
Den richtigen Zeitpunkt hielt er für gekommen, wenn die Sowjets erkennen, dass ihre Strategie fehlgeschlagen ist, ein Umdenkungsprozess einsetzt und sie aus eigenem Interesse ihre Politik ändern. Diese Situation würde eintreten, sobald sie sich von ihrer Methode der Bedrohung und des Kalten Krieges gegenüber dem gestärkten Europa keine Vorteile mehr versprechen, die Entwicklung in Rot-China als bedrohlich empfinden und den Rücken in Richtung Europa frei haben wollten.
Einen zweiten Ausgangspunkt für einen Interessenausgleich sah Adenauer in den Unzulänglichkeiten der sowjetischen Wirtschaft. Der Zeitpunkt hierfür wäre gekommen, wenn es sich auf Dauer ohne Erfolgsaussicht nicht lohne, Investition von Menschen- und Kapitalkraft ausschließlich für Rüstungszwecke einzusetzen und die Verständigung mit dem Westen über eine kontrollierte Abrüstung dann klüger sei.
Ein dritter Grund wären die zunehmenden wirtschaftliche Schwierigkeiten im Inneren. Über kurz oder lang werde die Bevölkerung nicht unbegrenzt den niedrigen Lebensstandard akzeptieren und sei über 10, 20 oder 30 Jahre hinweg nicht bereit, Konsumverzicht zugunsten der ungehemmten Rüstungsausgaben zu leisten.
Die Welteroberungspläne würden über die sowjetischen Kräfte gehen und die Führung unweigerlich mit einem erheblichen Zielkonflikt konfrontieren, weil sie nicht gleichzeitig den niedrigen sozialen Lebensstandard der Bevölkerung heben, aufrüsten und die nach Freiheit strebenden Satellitenstaaten unterjochen könne. Durch kohärente Bündnispolitik sollten die westlichen Mächte den Kremlherrschern ihre Grenzen aufzeigen und sie zur Räson bringen. Durch diese Position westlicher Stärke werde eines Tages der Moment kommen, mit den Sowjets ernsthaft über die Wiedervereinigung Deutschlands in gesamteuropäischer Sicht verhandeln zu können.
Im Falle der Verständigung war Adenauer bereit, politisches Entgegenkommen der Sowjets mit wirtschaftlicher Hilfe - Maschinen und Darlehen - zu honorieren, wenn sich dafür Sicherheit, Frieden, Freiheit und letzten Endes die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und Europas einhandeln ließe.
Adenauers Politik der Westbindung ruht auf einem atlantischen und einem westeuropäischen Pfeiler. Mit der Westintegration schlägt Adenauer einen völlig neuen Weg deutscher Außenpolitik ein.
Die Pariser Verträge brachten der Bundesrepublik weitgehende Souveränität und regelten ihre Wiederbewaffnung im Rahmen der NATO.
Nur zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in der Bundesrepublik die ersten Soldaten der Bundeswehr vereidigt.
Im April 1953 brach Konrad Adenauer zu einer ausgedehnten Reise in die USA auf. Es war der erste Amerika-Besuch eines deutschen Regierungschefs überhaupt.