Martin Falbisoner
Die Zeremonie war improvisiert und schmucklos. 101 Freiwillige, von künftigen Unteroffizieren bis hin zu Generälen, waren in einer Fahrzeughalle der Bonner Ermekeilkaserne angetreten, um ihre Ernennungsurkunden aus der Hand von Verteidigungsminister Theodor Blank zu empfangen. Die wenigsten davon trugen schon Uniformen – kaum mehr als eine Handvoll der bald als „Affenjäckchen“ verspotteten Dienstanzüge konnten im Vorfeld überhaupt rechtzeitig fertiggenäht werden. Über dem Rednerpult prangte mit einem großen Eisernen Kreuz das Sinnbild deutscher Militärtradition schlechthin – gleichzeitig betonte der Verteidigungsminister in seiner Rede die unbedingte Notwendigkeit, „aus den Trümmern des Alten wirklich etwas Neues wachsen zu lassen, das unserer veränderten sozialen, politischen und geistigen Situation gerecht wird“. Nicht umsonst war der 12. November für diesen Anlass gewählt worden, markierte er doch den 200. Geburtstag Gerhard von Scharnhorsts, der als Reformer den preußischen Streitkräften während der napoleonischen Befreiungskriege den Weg aus ihrer strukturellen Misere wies. Gleichwohl gilt Scharnhorst freilich auch als einer der Väter des Eisernen Kreuzes – mithin also gerade jenes Symbols, das in den Augen wohl so mancher geradezu stellvertretend für den geschichtlichen Weg einstand, an dessen Ende in bitterer Konsequenz die beklagten Trümmer lagen. Letztlich sind es aber gerade solche Provisorien, Zweideutigkeiten und Widersprüche, die die holprige Neubegründung deutscher Streitkräfte unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen überaus treffend charakterisieren. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal einen offiziellen Namen. Erst im März des Folgejahres, im Zuge der Verabschiedung des „Gesetzes über die Rechtsstellung der Soldaten“, übertrug ihnen der Bundestag die Bezeichnung „Bundeswehr“. Als ihre Geburtsstunde gilt gleichwohl gemeinhin bereits dieser 12. November, obschon er letztlich kaum mehr als nur eine kurze Momentaufnahme in einem längeren, evolutorischen Prozess repräsentiert.
Aller einstweiligen Provisorien und Mängel zum Trotze – wer hätte diesen Schritt, eine neuerliche Begründung deutscher Militärmacht, nur zehn Jahre zuvor zu prognostizieren gewagt? 1945 war Deutschland ein vollständig besiegtes, zerstörtes und besetztes Land, war militärisch, ökonomisch und nicht zuletzt moralisch bankrott. Millionen deutsche Soldaten befanden sich zudem in alliierter Kriegsgefangenschaft. Bis auf wenigen Außenseitern, etwa dem amerikanischen Heeresgeneral George S. Patton, der ernstlich anregte, die gefangenen Wehrmachtssoldaten gleich neu auszurüsten, um mit ihnen gemeinsam bis Moskau weiterzumarschieren, erschien Siegern wie Besiegten gleichermaßen einzig die vollständige und dauerhafte Demilitarisierung Deutschlands als das folgerichtige Gebot der Stunde. Doch mit dem stetig tiefer werdenden Graben zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion, also dem sich rasch abzeichnenden Ost-West-Konflikt, begannen sich auch hier die Perspektiven markant zu verschieben. Aus dem besiegten und geteilten Feind wurde, zumindest in den westlichen Besatzungszonen, binnen weniger Jahre Freund und Bündnispartner. Die tiefe Verwurzelung der jungen Bundesrepublik im Westen und ihre Pflicht zur Mitgestaltung einer europäischen Integration, basierend auf den gemeinsamen christlich-abendländischen Werten, betonte Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949. Als Realpolitiker war ihm dabei gleichzeitig klar, dass die Bundesrepublik bei der Erreichung dieses Ziels nur dann als Partner auf Augenhöhe akzeptiert – und überhaupt mit den hierzu notwendigen Souveränitätsrechten ausgestattet – werden könnte, wenn sie am System kollektiver Sicherheit auch militärisch angemessen partizipiert – zwar eingebettet in gemeinsame Strukturen, schon aus Rücksichtnahme vor dem Sicherheitsbedürfnis der Nachbarn, die solche Überlegungen wenige Jahre nach dem Krieg nachvollziehbarerweise argwöhnisch beobachteten, doch mit sichtbarem, individuellen Beitrag. Innenpolitisch, im Bundestag wie in der öffentlichen Meinung, war das zu diesem Zeitpunkt allerdings noch kaum darstellbar. Dies erhellen schon die scharfen Reaktionen auf ein Interview, das Adenauer Anfang Dezember 1949 einem Reporter des Cleveland Plain Dealers gab. In diesem signalisierte er – betont vorsichtig – die Bereitschaft, gegebenenfalls auch deutsche Kontingente für eine gesamteuropäische Streitkraft zu stellen.
Katalysatorisch sollte der Koreakrieg wirken, der am 25. Juni 1950 ausbrach, als nordkoreanische Einheiten Südkorea angriffen, und dabei in der Folge auch offen von der Volksrepublik China unterstützt wurden. Die Gefahren eines heißen Krieges zwischen den Blöcken, eines Dritten Weltkriegs also, standen der Welt nun deutlich vor Augen. Nicht zuletzt der amerikanische Präsident Harry S. Truman zeigte sich einem deutschen Verteidigungsbeitrag zunehmend sehr aufgeschlossen. Adenauer ließ sich in Sicherheitsfragen von Gerhard Graf von Schwerin beraten und begründete hierfür bereits im Mai eine offizielle Dienststelle, obschon mit dem äußerlich unverfänglichen Namen „Zentrale für Heimatdienst“. Bereits nach wenigen Monaten überwarf er sich allerdings mit dem ehemaligen General der Panzertruppe und ernannte am 26. Oktober Theodor Blank zu dessen Nachfolger. Aus dem „Amt Blank“ sollte fünf Jahre später schließlich das Bundesministerium für Verteidigung hervorgehen. Auf europäischer Ebene wiederum reifte einstweilen der Gedanke – hier zunächst ausgehend von einem Vorschlag des ehemaligen britischen Premierministers Winston Churchill, zu dieser Zeit Oppositionsführer im Unterhaus – eine europäische Streitkraft zu formieren, dies unter ausdrücklicher Beteiligung deutscher Kontingente. Der Europarat verabschiedete einen entsprechenden Beschluss am 11. August 1950. Der nach dem französischen Ministerpräsidenten benannte Pleven-Plan vom 24. Oktober 1950 konkretisierte schließlich das Vorhaben: Ziel sollte die Begründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sein, also der Zusammenschluss westeuropäischer Streitkräfte unter dem Kommando eines gemeinsamen europäischen Verteidigungsministers. Adenauer konnte sich mit dieser Konzeption grundsätzlich identifizieren, ohne dabei vom weiteren Ziel abzurücken, der Bundesrepublik ebenso zur Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt (NATO) zu verhelfen. Auch im Bundestag zeichnete sich eine Mehrheit für einen deutschen Wehrbeitrag auf Basis der EVG ab.
Schon vor der Formulierung des Pleven-Plans hatte die Bundesregierung militärische Experten, ausschließlich ehemalige Spitzenoffiziere der Wehrmacht, im Kloster Himmerod versammelt, um Grundsätze einer deutschen Wiederbewaffnung sowie Wesen und Struktur künftiger deutscher Streitkraft diskutieren und entwerfen zu lassen. Nicht wenige der 15 Konferenzteilnehmer erlangten später in Bundeswehr und NATO allerhöchste Ämter. Sie sollten dabei wesentliche Träger des – obgleich zunächst auch in ihrem Kreis nicht ganz unumstrittenen – Konzepts der „Inneren Führung“ werden, das zentralen Eingang in die „Himmeroder Denkschrift“ vom 9. Oktober 1950 fand. Ein weiterer Meilenstein war die Formierung des Bundesgrenzschutzes (BGS) im Frühjahr 1951. Formal eine Polizei auf Bundesebene, war der BGS tatsächlich eine paramilitärische Formation mit Kombattantenstatus. Ihre erste Sollstärke betrug 10.000 Mann. Mit Billigung der NATO stützte sie sich fast vollständig auf ehemalige Angehörige der Wehrmacht und konnte auch auf schwerere Waffen zurückgreifen. In der westdeutschen Öffentlichkeit stieß diese Entwicklung bereits auf mitunter energischen Widerstand. Unter dem Schlagwort „Ohne Mich“ formierten sich Gegner einer deutschen Wiederbewaffnung zu einer ersten Friedensbewegung, die aus sehr heterogenen Gruppierungen zusammenfand und Repräsentanten aus dem linken Lager der Gewerkschaften bis hin zu Vertretern der Kirchen vereinte. Der spätere Bundespräsident und damalige CDU-Politiker Gustav Heinemann trat aus Protest am 10. Oktober 1950 als Innenminister zurück. Trotz der spürbaren Opposition schienen bereits zu diesem Zeitpunkt die Weichen für eine deutsche Wiederbewaffnung gestellt. Entscheidend hierfür waren markante Veränderungen der außenpolitischen Rahmenbedingungen. Am 26. Mai 1952 schloss die Bundesrepublik mit den drei westlichen Siegermächten den Deutschlandvertrag ab, der das Besatzungsstatut von 1949 ablösen sollte. Allerdings beinhaltete dieser eine Klausel, die eine Ratifizierung des EVG-Vertrags als notwendige Vorbedingung postulierte. Im Bundestag fanden Deutschland- wie EVG-Vertrag am 19. März 1953 – gegen die Stimmen der parlamentarischen Opposition – auch eine Mehrheit. Scheitern sollte die EVG, und somit einhergehend auch der Deutschlandvertrag, vielmehr ausgerechnet dort, wo sie ihren konzeptionellen Ursprung genommen hatte – in Frankreich. In Paris präsentierte sich das innenpolitische Gefüge mittlerweile sehr fragil, nicht zuletzt aufgrund der französischen Niederlage im Indochinakrieg. Die Regierung von Ministerpräsident Pierre Mendès-France brachte den EVG-Vertrag Ende August 1954 schließlich in der Nationalversammlung zu Fall, wo er von Sozialisten wie Gaullisten gleichermaßen bekämpft worden war. Ihre Gründe hierfür waren vielfältig. Neben weiterbestehenden Bedenken gegen eine deutsche Wiederbewaffnung wirkten auch Veränderungen der weltpolitischen Ausgangslage in die Debatte hinein. Zum einen schien mit dem Ende des Koreakriegs auch die unmittelbare Kriegsgefahr gebannt – und mit ihr der eigentliche Handlungsdruck gelindert. Zum anderen wurden Stimmen nach einem unabhängigeren Kurs gegenüber der Sowjetunion laut, der durch die Ratifizierung des EVG-Vertrags für Frankreich deutlich erschwert worden wäre. Insbesondere wäre dieser aber auch mit einem eigenen französischen Atomwaffenprogramm, der späteren „Force de Frappe“, kaum vereinbar gewesen. Die Planungen des deutschen Wehrbeitrags waren indessen bereits weit gediehen, das Amt Blank hatte schon detaillierte Entwürfe zu Aufwuchs und Struktur der künftigen Streitkräfte vorgelegt. Für diese musste nun ein alternativer institutioneller Rahmen gefunden werden. Das maßgebliche Forum hierfür war die Londoner Neun-Mächte-Konferenz vom Herbst 1954. Man kam überein, die Bundesrepublik Deutschland sowohl in den zur Westeuropäischen Union (WEU) erweiterten Brüsseler Pakt als auch in die NATO aufzunehmen. Die äußeren Konditionen definierte dabei ein komplexes Vertragspaket, das am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichnet wurde. Die sog. Pariser Verträge, die vom Bundestag Ende Februar ratifiziert wurden und am 5. Mai 1955 in Kraft traten, beinhalteten dabei erneut auch den, nunmehr allerdings nicht unerheblich abgeänderten, Deutschlandvertrag. Hinsichtlich einer tatsächlichen (Teil-)Souveränität, alliierte Vorbehaltsrechte bestanden weiterhin insbesondere zu allen Fragen Deutschland als Ganzes bestreffend, war dieser für die Bundesrepublik nun sogar noch günstiger. Im Ergebnis war das Besatzungsstatut endgültig aufgehoben sowie die politische und militärische Integration der Bundesrepublik Deutschland im westlichen Bündnis institutionalisiert. Sie wurde somit zum gleichberechtigten Partner.
Als Partner genoss die Bundesrepublik freilich nicht nur neue Privilegien, sondern ihr oblagen nunmehr auch ganz konkrete Verpflichtungen. Entsprechend rasant gestaltete sich zwangsläufig der Aufbau und Aufwuchs ihrer Streitkräfte. Sie stellte, unter erklärtem Verzicht auf atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen sowie zunächst auch noch auf größere Kriegsschiffe, in erster Linie die Aufstellung von 12 Heeresdivisionen bis zum Jahr 1959 in Aussicht. Ausgerüstet werden sollte diese im Wesentlichen mithilfe amerikanischer Waffenlieferungen – eine nennenswerte deutsche Rüstungsindustrie existierte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bzw. noch nicht. Am 7. Juni 1955 wurde das Amt Blank – mittlerweile personell ganz erheblich angewachsen – in das Ministerium für Verteidigung umbenannt. Wenige Tage darauf stimmte der Bundestag dem sogenannten „Freiwilligengesetz“ zu – die allgemeine Wehrpflicht sollte in der Bundesrepublik erst im Folgejahr eingeführt werden. Ein Großteil der Freiwilligen wechselte direkt vom Bundesgrenzschutz in die neuen Streitkräfte über. Weiteres Potential versprachen die nun vertragsgemäß aufzulösenden „Alliierten Dienstgruppen“ – eine Sammelbezeichnung für eine ganze Reihe von Einheiten im Dienste der Besatzungsmächte, in denen Deutsche vor allem technische, aber auch – insbesondere zur See – bewaffnete Hilfsdienste leisteten. Höchst problematisch war allerdings die letztlich doch unabänderliche Tatsache, dass, von den jüngsten Rekrutenjahrgängen einmal abgesehen, praktisch alle erfahrenen Freiwilligen – und auf die kam es beim Aufbau der Truppe ja an – eine Vergangenheit in der Wehrmacht oder sogar in der SS aufwiesen. Die NATO, so merkte Adenauer hierzu an, werde ihm auch sicherlich keine 18-jährigen Generäle abnehmen. Indem der Bundestag einen unabhängigen Personalgutachterausschuss begründete, der sämtliche Bewerbungen für Offiziersposten ab dem Rang eines Obersts im Einzelfall zu prüfen hatte, hoffte man, belastete Kandidaten noch vor ihrer möglichen Ernennung auszumustern. Gleichwohl sollten durchaus auch namhafte Spitzenoffiziere der Bundeswehr nicht unumstritten bleiben, so etwa ihr erster Generalinspekteur, General Adolf Heusinger. Dieser war, neben General Hans Speidel, der ranghöchste Offizier, der am 12. November 1955 in der Bonner Ermekeilkaserne seine Ernennungsurkunde in Händen hielt. Damit war die Bundeswehr zwar formal in Dienst gestellt, ihr tatsächlicher Aufbau sollte hingegen noch einige weitere Jahre benötigen.
Adenauers Politik der Westbindung ruht auf einem atlantischen und einem westeuropäischen Pfeiler. Mit der Westintegration schlägt Adenauer einen völlig neuen Weg deutscher Außenpolitik ein.
Konrad Adenauer sah in dem Kalten Krieg einen Machtkampf zwischen der Sowjetunion und den Völkern des freien Westens.
Die Pariser Verträge brachten der Bundesrepublik weitgehende Souveränität und regelten ihre Wiederbewaffnung im Rahmen der NATO.