Europäische Einigung

Kordula Kühlem

„Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.“ Diese Aussage Bundeskanzler Konrad Adenauers in seiner Regierungserklärung vom 15. Dezember 1954 zeigt nicht nur sehr anschaulich den Weg der frühen europäischen Integration auf, sondern auch die Rolle, die Adenauer selbst auf diesem Weg spielte. Zu Recht gilt er heute als einer der Gründerväter Europas.

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Europaideen nach dem Ersten Weltkrieg

Der Gedanke einer europäischen Einigung ist Jahrhunderte wenn nicht sogar Jahrtausende alt, doch größere Bedeutung erlangten diese Ideen erst nach der von John F. Kennan so genannten „Urkatastrophe“ Europas – dem Ersten Weltkrieg. Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi gründete 1922 die heute noch existierende Paneuropa-Union. In der Schweiz entstand die ebenfalls bis heute bestehende Europa-Union. Auf Initiative von Luigi Sturzo wurde 1925 das Secrétariat International des Partis Démocratiques d’Inspiration Chrétienne, ein europäisches Bündnis Christlich Demokratischer Parteien gegründet.

Auch Konrad Adenauer, seit 1917 Oberbürgermeister von Köln, beschäftigte sich in dieser Zeit mit einem möglichen Zusammenschluss der europäischen Staaten. Bereits wenige Monate nach Kriegsende, im Juni 1919 sprach er von der notwendigen „Versöhnung“ in Europa. Für diese „Atmosphäre des Friedens“ in Europa müsste „die Wirtschaft der Politik Wegbereiterin sein“, so Adenauer 1924 bei Eröffnung der Kölner Messe. 1928 prophezeite er schließlich, „dass der Gedanke des Friedens und der Verständigung siegen muss, wenn nicht Europa untergehen soll“. Die kommende Katastrophe – die nationalsozialistische Tyrannei und der Zweite Weltkrieg – brachte den Kontinent tatsächlich nahe an den Untergang, aber die Idee der europäischen Integration überlebte.

Der europäische Traum zur Überwindung der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs

Bundeskanzler Konrad Adenauer trifft den französischen Außenminister Robert Schuman am 22....

Teilweise mit Wurzeln in den verschiedenen Widerstandsgruppen ihrer Länder bildeten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einigen Staaten Gruppierungen, die sich für einen Zusammenschluss der europäischen Staaten einsetzten. Auf dem Europa-Kongress vom 7. bis 10 Mai 1948 in Den Haag vereinten sich verschiedene Bewegungen zum „United Europe Movement“. Adenauer zeigte sich als Teilnehmer tief beeindruckt von dieser Veranstaltung, wie auch bereits zwei Jahre vorher von der Initialzündung zu dieser Konferenz, der Züricher Rede Winston Churchills vom 19. September 1946.

Doch für einen deutschen Politiker waren die Möglichkeiten, in und für Europa zu wirken, so kurz nach dem Weltkrieg noch sehr eingeschränkt. Als sich vom 31. Mai bis 2. Juni 1947 in Chaudfontaine bei Lüttich christdemokratische Politiker trafen, um einen europäischen Zusammenschluss, die Nouvelles Equipes Internationales (NEI), zu gründen, war noch kein deutscher Vertreter aus einer der Besatzungszonen eingeladen. Erst am zweiten Treffen der Vereinigung vom 30. Januar bis 1. Februar 1948 in Luxemburg durften auch Deutsche teilnehmen. Adenauer nutzte die Gelegenheit, das erste Mal nach Kriegsende mit europäischen Politikern zusammenzutreffen. Er betonte in seiner Rede als Delegationsleiter die „Pflicht zur Wiedergutmachung“ der Deutschen und hob hervor, „dass die Lösung des deutschen Problems aufs engste verknüpft ist mit dem Problem des Neuaufbaus Europas“.

Europa als Hoffnung für die neugegründete Bundesrepublik Deutschland

Unterzeichnung des Vertrages zur Gründung der EGKS am 18. April 1951 in Paris: v.l. Paul van...

Das von Adenauer in dieser Rede angesprochene deutsche Problem war die Spaltung des Landes. Die nach der Kapitulation eingerichtete Besatzungszone der Sowjetunion grenzte sich immer mehr ab und konstituierte sich am 1. Oktober 1949 zur Deutschen Demokratischen Republik. Die drei Besatzungszonen der Westmächte Großbritannien, USA und Frankreich bildeten dagegen nach und nach einen Zusammenschluss aus dem mit Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland entstand. Konrad Adenauer, der als Präsident des Parlamentarischen Rats  auch an der Ausarbeitung dieser als Provisorium gedachten Verfassung beteiligt war, wurde am 15. September 1949 zum Bundeskanzler gewählt.

Auch als erster Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland betrieb Adenauer weiter eine Politik der europäischen Zusammenarbeit. Er verband damit zum einen die Hoffnung auf die Aussöhnung mit den westlichen Nachbarn und daraus folgend eine integrierte Zusammenarbeit, die wiederum Westdeutschland in der Auseinandersetzung mit dem Ostblock, besonders der Sowjetunion und der DDR, stärken würde. Diese Politik der Stärke sollte in Adenauers Überzeugung auch einen wichtigen Beitrag zur angestrebten Wiedervereinigung leisten. Zum anderen hoffte der Bundeskanzler auch darauf, dass Westdeutschland in eventuellen europäischen Zusammenschlüssen als gleichberechtigter Partner angesehen würde und damit seine zum Zeitpunkt der Staatsgründung noch sehr eingeschränkte Souveränität schrittweise ausbauen könnte. Daneben bestanden natürlich auch Überlegungen, die schwierige Wirtschaftslage Europas nach dem Zweiten Weltkrieg mit vereinten europäischen Kräften besser überwinden zu können.

Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits der erste europäische Zusammenschluss, der am 5. Mai 1949 gegründete Europarat. Für die Bundesrepublik gewann der Europarat an Bedeutung, weil mit der Entsendung von Repräsentanten in die Beratende (Parlamentarische) Versammlung am 13. Juli 1950, bzw. der Vollmitgliedschaft im Mai 1951, das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg westdeutsche Vertreter gleichberechtigt bei einer internationalen Institution mitwirken konnten.

Auf der Pressekonferenz zur Entsendung westdeutscher Vertreter in den Europarat vom 9. Mai 1950 betonte Adenauer: „Der Zusammenschluß Europas unter Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland ist ein notwendiger Weg zur Erhaltung des Friedens und zur Wiederherstellung der deutschen Einheit.“ Gleichzeitig kommentierte der Bundeskanzler den auf Überlegungen Jean Monnets basierenden Vorschlag des französischen Außenministers Robert Schuman, die Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und der Bundesrepublik sowie weiterer europäischer Länder einer gemeinsamen Organisation zu unterstellen. Für Adenauer waren das, wie er in einer Pressekonferenz betonte, nicht weniger als „die ersten tatsächlichen Grundlagen einer europäischen Föderation ..., die zur Erhaltung des Friedens unumgänglich nötig sind.“

Der Schuman-Plan vom 9. Mai 1950 sollte die Internationale Ruhrbehörde vom April 1949 ersetzen, der die westlichen Siegermächte, die Beneluxstaaten und nach ihrer Gründung auch die Bundesrepublik angehörten. Diese Institution war gegründet worden, um die besonders im Krieg wichtige Kohl- und Stahlproduktion im Ruhrgebiet unter internationaler Kontrolle zu haben. Die nach weniger als einem Jahr Verhandlungen gegründete Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion) übernahm das Motiv der Kontrolle, allerdings waren jetzt auch die Zusammenfassung der Wirtschaftskräfte der beteiligten Staaten sowie die deutsch-französische Aussöhnung wichtige Faktoren.

Am 18. April 1951 unterzeichneten Frankreich, die Beneluxstaaten, Italien und Westdeutschland den EGKS-Vertrag, der nach der Ratifizierung durch die sechs Mitgliedsstaaten am 23. Juli 1952 in Kraft trat. Neben den Organen wie der Hohen Behörde mit Sitz in Luxemburg, dem Ministerrat und dem Gerichtshof wurde auch eine parlamentarische Kontrollinstanz geschaffen. Die Gemeinsame Versammlung der EGKS bestand aus 78 Abgeordneten, die die Parlamente der einzelnen Mitgliedstaaten ernannten. Ihre Gründung gilt als Geburtsstunde des heutigen Europäischen Parlaments.

Konrad Adenauer spricht im Bundestag zum Schumanplan.

Neue Deutsche Wochenschau 103/1952, 15.01.1952, Quelle: Bundesarchiv, Bestand Film: F 001711

Zerstörte Hoffnung auf die Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Konrad Adenauer beim Empfang anlässlich des Besuches des italienischen Ministerpräsidenten Alcide...

Noch während der Verhandlungen über die EGKS brachte wiederum die französische Seite eine weitere Anregung ein: Der französische Ministerpräsident René Pleven schlug am 24. Oktober 1950 eine Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vor. Diese sollte nicht nur die Aufstellung einer gemeinsamen Armee, sondern auch eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) beinhalten. Hintergrund war der im Juni 1950 ausgebrochene Krieg im geteilten Korea, der den europäischen Ländern sehr deutlich die Bedrohung durch die Ost-West-Konfrontation vor Augen führte.

Unter dem Eindruck des Krieges in Asien führten die Verhandlungen am 27. Mai 1952 zur Unterzeichnung des EVG-Vertrags durch die Mitgliedsstaaten der EGKS. Doch die Ratifizierung gestaltete sich schwierig und scheiterte schließlich an der Ablehnung der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954. Für Adenauer war das Scheitern ein Tiefschlag. Sein Vertrauter Felix von Eckardt schrieb später in seinen Memoiren: „Niemals vorher und nachher habe ich Adenauer so verbittert, so deprimiert erlebt.“ Adenauers Verstimmung wurde sicher auch dadurch verstärkt, dass er nur wenige Tage vorher mit dem Tod des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperis einen wichtigen europäischen Mitstreiter verloren hatte.

Zumindest ein Teil des Tiefs konnte erstaunlich schnell überwunden werden. Im Mai 1955 erhielt Westdeutschland weitgehende Souveränität und wurde in die NATO aufgenommen. Gleichzeitig erfolgte die Gründung eines europäischen Verteidigungsbündnisses, der Westeuropäischen Union (WEU). Das Scheitern der EPG bedeutete aber, dass die europäische politische Zusammenarbeit erst Jahrzehnte später kommen sollte.

Im Mai des schwierigen Jahres 1954 erhielt Konrad Adenauer als fünfte Persönlichkeit den Karlspreis der Stadt Aachen für seine Verdienste um Europa. Seine Dankesrede nutzte der Bundeskanzler zu der Mahnung: „Der Weg nach einem vereinten Europa hat sich in den letzten zwölf Monaten als besonders steinig, schwer und mühevoll gezeigt. Aber das darf uns nicht enttäuschen und wird uns nicht enttäuschen, denn alle Wege zu wirklich großen Zielen sind schwer.“

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als ökonomische Notwendigkeit

Konrad Adenauer im Gespräch mit Jean Monnet und Walter Hallstein auf der Schuman-Plan-Konferenz...

Der schwere Weg zur europäischen Integration wurde tatsächlich bald wieder aufgenommen. Am 1. und 2. Juni 1955 kamen in Messina die Außenminister der EGKS zusammen und setzten unter dem Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak einen Sachverständigenausschuss ein. Dieser beschäftigte sich mit den Vorschlägen, einen gemeinsamen Markt mit einer Zollunion sowie eine europäische Organisation zur friedlichen Nutzung der Atomenergie zu errichten. Die Verhandlungen verzögerten sich jedoch etwas, was an Widerständen sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Staaten lag, aber auch an den zahlreichen politischen Ereignissen im Jahr 1955: Im Juli fand das Genfer Gipfeltreffen der früheren vier Besatzungsmächte statt; im September reiste Adenauer nach Moskau und erreichte die Rückholung der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion; und im Oktober machte die Volksabstimmung im Saarland den Weg frei zu dessen Beitritt zur Bundesrepublik zum 1. Januar 1957 – ein Erfolg, der nur durch die gleichzeitigen europäischen Verhandlungen möglich war.

Nach dem ereignisreichen Jahr 1955 widmete sich Adenauer Anfang 1956 wieder verstärkt der europäischen Integration. In einem Schreiben vom 19. Januar an das Bundeskabinett forderte er unter Bezugnahme auf seine Richtlinienkompetenz „eine klare, positive deutsche Haltung zur europäischen Integration“ und die „Herstellung eines gemeinsamen europäischen Marktes“. Das richtete sich vor allem an eher zögerliche Kabinettsmitglieder wie Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, der in einem Schreiben an Adenauer vom 11. April 1956 dessen Weisung als „Integrationsbefehl“ bezeichnete. Auch in den anderen EGKS-Staaten gab es durchaus Widerstände, so reiste Adenauer am 5. November 1956 persönlich nach Paris und schloss mit dem französischen Ministerpräsidenten Guy Mollet Kompromisse, auf deren Grundlage es in den folgenden Wochen gelang, in Brüssel zu allen bis dahin strittigen Fragen übereinstimmende Regelungen zwischen den sechs Partnern zu finden.

Am 25. März 1957 konnten schließlich die Staats- und Regierungschefs von Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlande und der Bundesrepublik in der italienischen Hauptstadt die Römischen Verträge unterschreiben. Sie besiegelten die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Mit Inkrafttreten der Verträge am 1. Januar 1958 nahmen die Organe der EWG ihre Arbeit auf. Die zur Durchführung der Beschlüsse der Mitgliedsstaaten und somit als Exekutivorgan gegründete Kommission leitete der Deutsche Walter Hallstein, ein Vertrauter Konrad Adenauers. Die Parlamentarische Versammlung der EGKS agierte nunmehr als eine gemeinsame Institution auch für EWG und Euratom, womit ein weiterer Schritt auf dem Weg zum heutigen Europäischen Parlament getan wurde.

Europa als politische Notwendigkeit

Am Tag der Unterzeichnung der Römischen Verträge sprach Adenauer in einer Rede von „der Freude darüber, dass es uns vergönnt ist, den großen Schritt der Einigung Europas zu tun“, allerdings auch von den noch anstehenden Aufgaben. Bereits wenige Tage nach Inkrafttreten der Verträge, am 15. Januar 1958, forderte er beispielsweise in einer Rundfunkansprache: „Das Ziel muß sein, die Schaffung eines europäischen Parlaments durch direkte geheime Wahlen.“ Im Jahr darauf erklärte er am 9. November 1959 im Bundesvorstand seiner Partei: „Die EWG ist in der Hauptsache ein politischer Vertrag, der bezweckt, auf dem Wege über die Gemeinsamkeit der Wirtschaft zu einer politischen Integration Europas zu kommen.“

Tatsächlich konstituierte sich 1960 unter dem französischen Diplomaten Christian Fouchet ein Ausschuss, der im Folgenden Pläne für eine Europäische Politische Union (EPU) vorlegte. Im April 1962 entschieden sich die Außenminister der Gemeinschaft allerdings gegen die Weiterverfolgung des Vorhabens. Für Adenauer stellte diese Entscheidung im Prinzip kein Problem dar, da für ihn als Pragmatiker die Supranationalität kein zwingendes Ziel darstellte. Am 9. Oktober 1962 erklärte er vor dem Bundestag dazu: „Mir scheint es richtig zu sein, die Frage der europäischen politischen Union zwar keineswegs als erledigt zu betrachten, meine Damen und Herren, aber sie einstweilen auf sich beruhen zu lassen, bis der geeignete Augenblick, sie zum Erfolg zu bringen, gekommen ist.“

Nicht ruhen lassen wollte die Frage aber die EWG-Kommission unter ihrem Präsidenten Walter Hallstein. Anfang der 1960er Jahre veranlasste sie eine Diskussion der Zusammenlegung der Organe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Europäischen Atomgemeinschaft und der Westeuropäischen Union. Diese Diskussion überdauerte sogar die bis dahin schwerste Krise der EWG, die des „leeren Stuhls“ durch das Fernbleiben Frankreichs von Gemeinschaftstreffen. Der Luxemburger Kompromiss vom Januar 1966 überwand nicht nur diese Krise, am 1. Juli 1967, drei Monate nach Adenauers Tod, konnte auch die Fusion zu den „Europäischen Gemeinschaften“, abgekürzt EG, in Kraft treten.

Die Notwendigkeit der Einbeziehung weiterer Staaten

Neben der Vertiefung der Integration unterstützte Adenauer schon früh eine Erweiterung der EWG. Im November 1957 verkündete er bereits: „Die Beteiligung steht auch den anderen freien Staaten Europas offen.“ Tatsächlich begannen schnell Bemühungen, weitere westeuropäische Staaten durch eine Freihandelszone mit der EWG zu verbinden. Doch es kam zu keiner Einigung und in der Folge im Januar 1960 zur Gründung der European Free Trade Association (EFTA). In dieser waren Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Österreich, die Schweiz und Portugal zusammengeschlossen, 1961 trat noch Finnland bei. Adenauer betrachtete diese Entwicklung mit großer Sorge. Am 18. November 1960 erklärte er vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „Es muß unbedingt verhütet werden, daß in Europa zwei Wirtschaftsblöcke entstehen, die einander mehr oder weniger kämpferisch gegenübertreten. Das geht nicht, und das darf nicht sein!“

In der Konkurrenz der beiden westeuropäischen Wirtschaftsblöcke zeigte sich schnell eine Überlegenheit der EWG. Bereits nach wenigen Jahren war sie der größte Importeur und der zweitgrößte Exporteur der Welt. Bis 1962 erhöhte sich das Bruttosozialprodukt um 21,5 Prozent. Demgegenüber hatte Großbritannien nur ein Wachstum von 11 Prozent, trotz der von London initiierten Gründung der EFTA. Folgerichtig stellte die britische Regierung am 9. August 1961 ein Beitrittsgesuch an die EWG. Die Beitrittsverhandlungen scheiterten schließlich im Januar 1963 an der Haltung des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle.

Die Tatsache, dass Adenauer zur gleichen Zeit mit de Gaulle den sogenannten Elysée-Vertrag abschloss, führte zu Kritik aus London und Washington, aber auch in der Bundesrepublik selbst. Als Reaktion stellte der Bundestag bei der Ratifizierung des Vertrages diesem eine Präambel voran, die u. a. die guten Beziehungen zu Großbritannien betonte. Adenauer, der als Regierungschef bereits angeschlagen war, musste im Oktober 1963 die Kanzlerschaft an Ludwig Erhard übergeben. Erst im Mai 1967 sollte es zu einem erneuten britischen Beitrittsantrag kommen, der zum 1. Januar 1973 zur Aufnahme Großbritanniens in die EWG führte – gemeinsam mit Irland und Dänemark.

Die erste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften erlebte Konrad Adenauer ebenso wenig wie die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979. Selbst das Inkrafttreten des Fusionsvertrags am 1. Juli 1967 kam für ihn zu spät, er starb wenige Monate vorher am 19. April 1967. Offensichtlich hatte Adenauer recht, in der Frage der europäischen Integration immer wieder zu Geduld zu mahnen. In seiner letzten großen politischen Rede im Februar 1967 widmete er sich noch einmal sehr intensiv Europa. Im Hinblick auf die Stockungen in der Integration mahnte er, „dass Europa nicht mehr die Zeit hat, geruhsam abzuwarten, bis vielleicht einmal die perfekte Lösung, die allen Partnerstaaten gleichermaßen gefiele, zustande kommt“. Er forderte mehr politische Zusammenarbeit und die Erweiterung um andere Länder nicht nur in West-, sondern auch in Osteuropa. Die Quintessenz dieser Rede, die sein Biograf Hans-Peter Schwarz als „Testament seines europäischen Wollens“ bezeichnete, brachte Adenauer auf den Satz: „Europa muss groß sein, muss Kraft haben, muss Einfluss haben, um seine Interessen in der Weltpolitik zur Geltung bringen zu können.“

Europa als Traum, Hoffnung und Notwendigkeit

Denkmal für die Gründerväter Europas (v.l.n.r. Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide De Gasperi und...

Schon nach dem Ersten Weltkrieg sah Konrad Adenauer die Möglichkeiten und Chancen eines europäischen Zusammenschlusses. Doch dieser Traum zerbrach in der Katastrophe des „Dritten Reichs“ und Zweiten Weltkriegs, wurde anschließend aber direkt wieder aufgenommen. Für Adenauer, wie für viele andere, war die Integration Europas die einzige Möglichkeit, sowohl den Frieden dauerhaft zu sichern als auch dem Kontinent seine politische Bedeutung zu erhalten.

Die aufkommende Hoffnung auf eine europäische Integration unterstützte Adenauer von Anfang an, auch schon in den Zeiten der Besatzung vor der Gründung der Bundesrepublik. Als erster Kanzler des westdeutschen Staates wirkte er aktiv an der Gründung der europäischen Institutionen EGKS und EWG mit, weshalb er bis heute zu den Gründervätern Europas zählt. Für Adenauer war aber nicht nur der wirtschaftliche Zusammenschluss eine Notwendigkeit für Europa. In einem Teegespräch plädierte er auch für eine politische Integration und die Erweiterung um zusätzliche Staaten. Diese Entwicklungen durfte er nicht mehr miterleben, aber er hatte von Anfang an zu Geduld gemahnt in dem Wissen, „höchstwahrscheinlich werden erst unsere Enkel die Früchte ... ernten.“

Ausgewählte Quellen zu Adenauer und der europäischen Integration

Adenauer: „… um den Frieden zu gewinnen.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957–1961, Düsseldorf 1994. (Dokument Nr. 10, Sitzung vom 9.11.1959, S. 440).

Kurt Beilken: Architekten und Baumeister des europäischen Hauses. Eine Dokumentation über das Wirken deutscher Christdemokraten für die Einheit Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Bonn 1993.

Michael Gehler/Wolfram Kaiser (Hg.): Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten. Dokumente 1945-1965, München 2004.

Michael Gehler/Marcus Gonschor/Hinnerk Meyer/Hannes Schönner (Hg.): Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten und Konservativen. Dokumente 1965-1979, München 2018.

Walter Lipgens/Wilfried Loth (Hg.): Documents on the History of European Integration. Berlin/New York 1986–1991.

Michael Borchard (Hg.): Deutsche Christliche Demokraten in Europa, Sankt Augustin/Berlin 2020.

Jean-Dominique Durand: L’Europe de la Démocratie Chrétienne, Paris 1994.

Felix von Eckardt: Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Düsseldorf/Wien 1967 (S. 304).

Pascal Fontaine: Herzenssache Europa. Eine Zeitreise 1953–2009. Geschichte der Fraktion der Christdemokraten und der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Brüssel 2009.

Michael Gehler/Wolfram Kaiser/Helmut Wohnout (Hg.): Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2001.

Thomas Jansen/Steven Van Hecke: At Europe’s Service. The Origins and Evolution of the European People’s Party. Heidelberg 2011.

Michael Gehler/Hinnerk Meyer: Konrad Adenauer, Europa und die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland im Kontext von privaten und politischen Netzwerken, in: Küsters, Hanns Jürgen (Hg.): Deutsche Europapolitik Christlicher Demokraten. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel (1945–2013), Düsseldorf 2014, S. 117–156.

Loth, Wilfried: Eine schwere Geburt. Konrad Adenauer, Guy Mollet und die Römischen Verträge. In: Dokumente 63 (2007) 2. S. 29–34.

Lappenküper, Ulrich: Adenauer, Schuman und die deutsch-französische Verständigung 1948–1963. In: Historisches Jahrbuch 125 (2005). S. 301–326.

Roberto Papini: L’Internationale Démocrate Chrétienne. La coopération internationale entre les partis démocrates-chrétiens de 1925 à 1986, Paris 1988.

Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991.

 

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