* geboren 31.01.1884
in
Brackenheim
† gestorben 12.12.1963
in
Stuttgart
Publizist, Kultusminister, FDP-Bundesvorsitzender, Bundespräsident
1902-1905 | Studium der Nationalökonomie und Neuphilologie in München |
1905 | Promotion in München (Dr. rer. pol.) |
1905-1912 | Redakteur der Zeitschrift: „Die Hilfe“ in Berlin, (Hg.) Friedrich Naumann |
1912-1917 | Chefredaktion der „Neckar-Zeitung“, Heilbronn |
1913-1917 | Schriftleitung der Kulturzeitschrift „März“ in Heilbronn |
1918 | Eintritt in die „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) und Mitglied der Geschäftsführung des „Deutschen Werkbundes“ (hauptamtlich bis 1921) |
1918-1922 | Redaktion der Zeitschrift „Deutsche Politik“ in Berlin |
1919 | Wahl zum Bezirksverordneten in Berlin-Schöneberg, gleichzeitig arbeitete er für die „Vossische Zeitung“ und die „Frankfurter Zeitung“ |
1920 | Studienleiter (bis 1925) und Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin |
1922-1925 | Schriftleiter der Zeitschrift „Die Deutsche Nation“ |
1924 | Wahl zum Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbundes |
1924-1928 | Abgeordneter der DDP im Reichstag |
1930-1932 | Abgeordneter der Deutschen Staatspartei (DStP - Nachfolger der DDP) im Reichstag |
1932 | Publikation: „Hitlers Weg“ – historische, politische und soziologische Analyse des Nationalsozialismus |
5. März 1933 | Wiederwahl in den Reichstag |
1933 | widerwillige Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, Entlassung als Dozent an der Hochschule durch die Nationalsozialisten |
12. Juli 1933 | Aberkennung des Reichstagsmandats |
29. Sept. 1933 | Rücktritt aus dem Vorstand des Deutschen Werkbundes |
1933-1936 | Herausgeber der Zeitschrift „Die Hilfe“, aufgrund von politischem Druck legt Heuss die Leitungsposition nieder |
1940-Feb. 1941 | Veröffentlichung in der wöchentlichen NS-Zeitschrift „Das Reich“ |
Feb. 1941-Aug. 1943 | Publikationsvertrag mit der Frankfurter Zeitung zu historischen und kulturpolitischen Themen, jedoch ab Dez. 1941 Publikationsverbot |
24. Sept. 1945 | Kultusminister in Württemberg-Baden |
6. Jan. 1946 | Vorstandsmitglied der Demokratischen Volkspartei (DVP) in Württemberg-Baden |
30. Juni 1946 | Mitglied der verfassungsgebenden Landesversammlung in Württemberg- Baden |
29. Sept. 1946 | Vorsitzender der Demokratischen Volkspartei (DVP) im gesamten amerikanischen Sektor |
24. Nov. 1946 | Wahl zum Abgeordneten des ersten Württembergisch-Badischen Landtag |
17. März 1947 | Vorstandsmitglied der im selben Jahr gegründeten Demokratischen Partei Deutschlands (DPD) |
12. Jan. 1948 | Honorarprofessor für politische Wissenschaften an der Technischen Hochschule Stuttgart |
1. Sept. 1948-23. Mai 1949 | Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender der Liberalen im parlamentarischen Rat in Bonn |
12. Dez. 1948 | Zusammenschluss der westdeutschen liberalen Parteien zur Freien Demokratischen Partei (FDP), Wahl zum ersten Vorsitzenden |
14. Aug. 1949 | Abgeordneter der FDP im Deutschen Bundestag |
12. Sept. 1949–12. Sept. 1959 | Bundespräsident, Verzicht auf Mandat und Amt des Parteivorsitzenden |
1963 | Veröffentlichung Heuss‘ „Erinnerungen 1905-1933“ |
Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1959, bildete mit Konrad Adenauer zehn Jahre lang die Doppelspitze des westdeutschen Staats. Als Präsident und Kanzler, Protestant und Katholik, Schwabe und Rheinländer sowie als Liberaler und Christdemokrat prägten Heuss und Adenauer die politische Kultur der Bundesrepublik in den 1950er Jahren ebenso wie die Verfassungsrealität der Bundesrepublik. Anhand ihrer Biografien lassen sich Brüche und Kontinuitäten in der Geschichte des bürgerlichen Deutschland vom Kaiserreich bis zur frühen Bundesrepublik verfolgen.
Theodor Heuss wurde 1884 im württembergischen Brackenheim in ein bürgerlich-evangelisches Elternhaus geboren. Sein Vater, ein Regierungsbaumeister, war Mitglied der Deutschen Volkspartei. Sein Großvater hatte an der Revolution von 1848/49 teilgenommen. Geprägt wurde Heuss aber nicht nur durch die liberale Familientradition, sondern durch soziale Reformer in seinem Umfeld. Nach seinem Studium in München und Berlin schrieb er 1905 seine Doktorarbeit bei dem Wirtschafswissenschaftler Lujo Brentano – zum Thema „Wein und Weingärtnerstand in Heilbronn“. Brentano gehörte zur Gruppe der „Kathedersozialisten“, die sich für eine staatliche Sozialpolitik einsetzten. Auch Heuss‘ Idol und Mentor, der Theologe und Politiker Friedrich Naumann, war ein Liberaler neuer Schule: Ebenso national wie sozial eingestellt, scharte er mit seinen demokratie-, sozial- und frauenpolitischen Ideen einen Kreis von überzeugten Schülerinnen und Schülern um sich. Zu diesen zählte auch Heuss‘ spätere Ehefrau Elly Knapp, eine engagierte Sozialreformerin mit christlichen Überzeugungen.
Über das Verhältnis von Konrad Adenauer und Theodor Heuss vor dem Zweiten Weltkrieg wissen wir wenig. Beide Männer kamen aus verschiedenen Milieus – hier der rheinische Katholik, dort der evangelische Schwabe – und sie schlugen unterschiedliche Laufbahnen ein: Adenauer stieg früh in kommunale Ämter der Stadt Köln auf und wurde 1917 zum jüngsten Oberbürgermeister Preußens gewählt. Heuss dagegen war auf vielen Feldern aktiv – als Schriftsteller, Hochschuldozent und Verbandsfunktionär – und machte Karriere als Journalist. Er war erst 28 Jahre alt, als er 1912 die Chefredaktion der Heilbronner Neckar-Zeitung übernahm. Wie Adenauer war Heuss ein Mann des aufstiegsorientierten Bürgertums und teilte dessen Wertehorizont und Verhaltensformen. Während sich der Kölner Oberbürgermeister unter anderem als Förderer des Kulturstandorts Köln verdient machte, pflegte Heuss Zeit seines Lebens enge Freundschaften mit Künstlern, Schriftstellerinnen und Architekten. Auch wenn persönliche Begegnungen zwischen Heuss und Adenauer zu dieser Zeit nicht überliefert sind: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Wege der beiden schon früh im Deutschen Werkbund kreuzten, einer wirtschaftskulturellen Vereinigung, die sich für Ästhetik und Qualität deutscher Produkte einsetzte. So reiste Theodor Heuss 1914 nach Köln, um von der großen Werkbund-Ausstellung zu berichten, die Adenauer in die Stadt geholt hatte. Noch kommentierte Heuss kritisch-distanziert („aufschlußreich“ und „wichtig“, aber „nicht ohne Mängel“), mit seiner Bestellung zum Geschäftsführer des Werkbundes im Jahr 1918 übernahm er aber selbst eine verantwortliche Position in der Vereinigung.
Mit der Revolution 1918 wurde für Theodor Heuss und Konrad Adenauer das politische Leben turbulenter. Heuss zog aus Heilbronn in die Hauptstadt Berlin und bewarb sich, wenn auch erfolglos, um ein Mandat in der Nationalversammlung. 1924 wurde er für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei in den Reichstag gewählt, dem er mit Unterbrechungen bis 1933 angehörte. Während Heuss dort ein Mann der zweiten Reihe blieb, wurde Adenauer über Köln hinaus wichtig, hatte seit 1921 den Vorsitz im Preußischen Staatsrat inne und war zeitweise als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers im Gespräch.
Nach dem Untergang der Monarchie ließen sich beide Politiker rasch auf die neue Staatsform ohne Kaiser ein. Sie gehörten zum Lager der „Weimarer Parteien“, den wesentlichen Stützen der parlamentarischen Demokratie. Den rechten Kapp-Putsch 1920 nannte Heuss ein „Verbrechen gegen die Nation“, Adenauer verteidigte die Republik auch in katholisch-konservativen Kreisen. Auch an der Deutschen Hochschule für Politik wirkten Heuss und Adenauer daran mit, die republikanischen Grundlagen gegen antidemokratische Tendenzen zu festigen – Heuss als Dozent (1920-1933) und Adenauer als Kuratoriumsmitglied (seit 1930). Wie viele Angehörige des Bürgertums aber sahen weder Heuss noch Adenauer in ihrem demokratischen Bekenntnis einen Widerspruch zu einer stark nationalen Politik mit kolonialen Ansprüchen. Nachdem Deutschland seinen Besitz in Übersee verloren hatte, wollte Adenauer „unbedingt den Erwerb von Kolonien anstreben“, wie er sich 1927 zitieren ließ. 1931 wurde er Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft. Als Schüler des „liberalen Imperialisten“ Naumann und stellvertretender Vorsitzender im Bund der Auslandsdeutschen stand auch für Theodor Heuss der „ideale Anspruch des deutschen Volkes auf Mitwirkung an den kolonisatorischen Aufgaben“ außer Frage, so Heuss 1926 in der „Kolonialen Rundschau“.
Ähnlich erklärungsbedürftig erscheint aus heutiger Sicht der Umgang von Heuss und Adenauer mit dem Nationalsozialismus. Beide gehörten zweifellos zu Hitlers Gegnern und wichen vor Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten nicht zurück. Sie unterschätzten aber Hitlers Radikalität und seinen Willen zur totalen Diktatur. So sprach sich Adenauer in der Krisensituation 1932 für Koalitionen mit der NSDAP in Preußen und im Reich aus – um „geordnete Verhältnisse“ zu schaffen, wie er am 12. Dezember 1932 an den Parteivorsitzenden des Zentrums Prälat Kaas schrieb. Der Liberale Heuss prangerte in seinem Buch „Hitlers Weg“ und in zahlreichen Reden die brutale Rhetorik, Gewalt und Ideologie der Nationalsozialisten an. Als es im März 1933 aber darum ging, Hitler per „Ermächtigungsgesetz“ mit umfassenden Vollmachten auszustatten, schloss sich Heuss im Reichstag der Mehrheit seiner Fraktion an und stimmte trotz Bedenken zu, um die Regierung an eine gesetzliche Grundlage zu binden, so eine der Begründungen. Dass sich Hitler davon nicht einhegen ließ, mussten Heuss und Adenauer schnell erkennen. Auf Konfrontationskurs mit dem neuen Regime, verlor Adenauer sein Amt als Oberbürgermeister und wurde permanent bedroht. Auch Theodor Heuss wurde politisch ausgeschaltet und konnte nur knapp einer drohenden Schutzhaft entgehen. Er fand aber seine Nische in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“, wo er weiter als Journalist und Biograf arbeiten konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg weisen die Lebenswege beider Politiker zusehends Parallelen auf. Für Adenauer und Heuss gleichermaßen begann mit dem Ende des Kriegs eine neue politische Blütezeit. Während der eine binnen kurzer Zeit zur Führungsfigur der neuen Christdemokratie aufstieg, vollzog der andere eine ähnliche Karriere im südwestdeutschen Liberalismus: Von der Besatzungsmacht als unbelasteter Demokrat eingestuft, wurde Heuss nacheinander Mitherausgeber der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung, Kultusminister („Kultminister“) im Land Württemberg-Baden und dort Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung. Mit seiner Wahl zum ersten Vorsitzenden der FDP im Dezember 1948 wurde er neben Adenauer einer der wichtigsten Parteipolitiker Westdeutschlands. Dabei wären beide fast in derselben Partei gelandet, hatte Heuss doch nach Kriegsende einen Beitritt zur neuen überkonfessionellen CDU erwogen, ehe er sich dafür entschied, dem politischen Liberalismus treu zu bleiben.
Die eigentliche politische Beziehung der beiden Männer begann 1948 im Parlamentarischen Rat. Von nun an sind persönliche Begegnungen überliefert. Im verfassungsgebenden Gremium spielten beide eine gewichtige, aber unterschiedliche Rolle. Als Präsident des Rats sah sich Adenauer als höchster Repräsentant der westdeutschen Politik und versuchte die Kompetenzansprüche des Gremiums gegenüber Ministerpräsidenten und Alliierten durchzusetzen. Heuss wiederum arbeitete im Ausschuss für Grundsatzfragen und im Hauptausschuss an der Ausgestaltung des Verfassungswerks mit und trug dort manchen Konflikt auch mit Unionsabgeordneten aus. Eine naturrechtliche Begründung der Grundrechte lehnte er ebenso ab wie eine Aufnahme des „Elternrechts“ in die Verfassung, da er eine konfessionelle Zersplitterung der Schullandschaft befürchtete.
Heuss trat aber auch als Vermittler zwischen den Parteien auf und wurde so für Konrad Adenauer zu einem wichtigen Partner – zumal dieser eine „bürgerliche Koalition“ mit der FDP anstrebte. Das war letztlich auch der ausschlaggebende Grund, warum er sich Heuss als Bundespräsidenten wünschte. Dass Heuss mit kirchenfeindlichen Traditionen im Liberalismus wenig zu tun hatte und mit einer „frommen Frau“ verheiratet war, half dabei: „dat jenücht“, so Adenauer. Auch in Sachen Antikommunismus und Westorientierung lagen beide auf einer Wellenlänge. Heuss wollte zwar eine Entscheidung zwischen West und Ost zunächst vermeiden. Wie Adenauer unterstützte er aber schließlich die Gründung des Weststaats und dessen Bindung an die westlichen Institutionen als einzige Garantie einer liberaldemokratischen Entwicklung.
Mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 begann für Heuss und Adenauer schließlich eine zehnjährige Periode, in der sie gemeinsam die Staats- und Regierungsspitze bildeten. Für die Zeit sind mehr als 200 Briefe erhalten, in denen nicht nur Amtliches, sondern auch private und familiäre Ereignisse besprochen wurden. Dazu kamen zahlreiche persönliche Treffen in kleiner oder größerer Runde. Als Regierungschef und Staatsoberhaupt trugen Konrad Adenauer und Theodor Heuss dazu bei, die westdeutsche „Kanzlerdemokratie“ in der Verfassungspraxis zu verankern. Dass die Bundesrepublik heute eine klare Arbeitsteilung zwischen einem regierenden Kanzler und einem repräsentierenden Präsidenten kennt, geht keineswegs unmittelbar aus dem Verfassungstext hervor. Umso wichtiger war daher die persönliche Prägung der beiden Ämter durch ihre ersten Inhaber. Indem sie absteckten, was wer zu tun und zu lassen hatte, prägten sie das Zusammenspiel von Präsident und Kanzler auf Jahrzehnte.
In vielem ergänzten sie sich: Der Machtanspruch Adenauers fand seine Entsprechung in der Bereitschaft des ersten Bundespräsidenten, seine verfassungsmäßigen Machtmittel zurückhaltend einzusetzen. Nur in Ausnahmefällen ließ es Heuss auf einen Machtkampf mit dem Kanzler ankommen. Wo sich ein solcher andeutete, da traf ein entschlossener Adenauer auf einen oft nur halbherzig agierenden Heuss. Dessen Überlegung, ähnlich wie der französische Präsident an Kabinettssitzungen teilzunehmen, kam für Adenauer nicht infrage. Auch seinen Anspruch, als Staatsoberhaupt den Oberbefehl über die Bundeswehr zu übernehmen, wie in den meisten Republiken üblich, konnte Heuss nicht durchsetzen. Schließlich scheiterte der Präsident auch mit seiner Idee, eine neue Nationalhymne einzuführen. Sein Vorschlag, die Neuschöpfung „Glaube, Liebe, Hoffnung“ des Dichters Rudolf Alexander Schröder, kam in der Öffentlichkeit schlecht an und wurde als „Theos Nachtmusik“ verspottet. Auch Adenauer kam dem Staatsoberhaupt nicht zur Hilfe. Er bevorzugte die dritte Strophe des Deutschlandlieds und setzte sich durch.
Das Verhältnis zwischen Adenauer und Heuss war aber nicht so asymmetrisch wie es erscheinen mag. In seiner Rolle als Bundespräsident bewahrte sich Heuss Freiräume und ließ sich nicht vorschreiben, was er wann und wo zu sagen hatte. Dass den präsidialen Reden heute eine überparteiliche Autorität zugebilligt wird, ist auch Folge daraus. Auch wenn es um Ministerernennungen ging, nahm Heuss Einfluss – mehr als man dem Bundespräsidenten heute zugestehen würde. 1953 trug er sogar dazu bei, die Ernennung seines Parteifreundes Thomas Dehler zum Minister zu verhindern. Dabei war Adenauer durchaus daran gelegen, das Staatsoberhaupt in Grundfragen der Politik auf seiner Seite zu wissen. Das konnte er auch: Neben der Westbindung der Bundesrepublik wurden auch die Wiederbewaffnung, die ersten Schritte zur Aussöhnung mit den Nachbarn und mit Israel sowie der Ausbau der marktwirtschaftlichen Ordnung gemeinsam getragen. Für den Naumann- und Brentano-Schüler Heuss und für den Katholiken Adenauer stellten Kapitalismus und Sozialstaat keine Gegensätze dar.
Jenseits der Machtpolitik, im Bereich des politischen Stils und der politischen Kultur, setzten Heuss und Adenauer einen bürgerlich-zivilen Kontrapunkt zur militaristischen Vergangenheit des Landes. Gemeinsam prägten sie das Bild der Bundesrepublik als nüchterner Weststaat ohne viel Pathos. Auch im Umgang mit der Vergangenheit ergaben sich Unterschiede eher im Akzent. Adenauer trat mit Nachdruck dafür ein, zwischen „Schuldigen“ und „Mitläufern“ des NS-Regimes zu unterscheiden. Erstere sollten bestraft, Letztere eingebunden werden. Um die neue Demokratie zum Erfolg zu führen, müsse „tabula rasa“ mit der Vergangenheit gemacht werden, so der Kanzler. Auch Heuss wollte von einer „Kollektivschuld“ der Deutschen nichts wissen, er bekannte sich aber schon im Dezember 1949 in einer vielbeachteten Rede vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden zu einer „Kollektivscham“. Dass er sich zugleich für einzelne ihm bekannte Kriegsverbrecher einsetzte, gehört zu den Widersprüchen der Heuss’schen Biografie.
Mit Ablauf der zweiten Amtszeit von Theodor Heuss im Jahr 1959 ging auch die Ära Heuss-Adenauer zu Ende. Und zum Schluss kam es noch einmal zu einem Knall. Nachdem Adenauer vergeblich versucht hatte, Heuss zu einer dritten Amtszeit zu bewegen – wofür eine Verfassungsänderung nötig gewesen wäre –, kündigte der Kanzler seine eigene Kandidatur an, um auch nach seinem Rücktritt als Kanzler noch politischen Einfluss ausüben zu können. Heuss war über alle Maßen verärgert, aber nicht über die Entscheidung, sondern über die Begründung: Das Amt des Bundespräsidenten biete mehr, „als man schlechthin glaubt“, so der Kanzler. Heuss verstand die Worte als Angriff auf seine Amtsführung und reagierte verletzt. Als unpolitischer Präsident, der nur „über Kunst redete“ und „Museen einweihte“, wollte er nicht in die Geschichte eingehen, wie er Adenauer schrieb. Als der Kanzler seine Kandidatur wenig später wieder zurückzog, fühlte sich Heuss endgültig betrogen und fürchtete um die Würde des Amts. Nach zehn Jahren als Regierungschef und Staatsoberhaupt gingen Adenauer und Heuss im Unfrieden auseinander, auch wenn sie schon bald wieder anerkennend übereinander sprachen.
Bis dahin hatten sich die beiden gerade in ihren Gegensätzen ergänzt, und diese sind im kollektiven Gedächtnis geblieben. Adenauer, der strenge „Alte“, und Heuss, der gutmütige „Papa Heuss“: Die Bilder, die wir heute von Adenauer und Heuss zeichnen, sind in vielerlei Hinsicht durch den ständigen Vergleich der beiden geprägt. Wo der Rheinländer als polarisierende und streitlustige Autorität erschien, sahen viele Bürgerinnen und Bürger in dem acht Jahre jüngeren Schwaben einen gemütlichen, auf Ausgleich bedachten Großvater. Nicht immer wird diese Art des Vergleichs beiden gerecht, weil die Stärken des einen die Schwächen des anderen umso stärker herausstreichen, teils auch überzeichnen.
Dabei waren beide in besonderer Weise Repräsentanten ihrer Zeit: In ihrer gediegenen Bürgerlichkeit, ihrer positiven Einstellung zu Nation, Religion und Tradition sowie ihrer Ablehnung totalitärer Denkmuster passten sie in die 1950er Jahre – und prägten sie maßgeblich mit. Sie setzten sich von der Vergangenheit ab, ohne zugleich einen radikalen Bruch zu verkörpern. Adenauers Name wird dabei bis heute mit einer Form der Demokratie verbunden, die für Sicherheit und autoritäre Führung stand. Heuss wiederum repräsentierte im öffentlichen Bild das Erbe der liberalen Kulturnation, das als Kontrapunkt zum Nationalsozialismus beschworen wurde. Im Geiste der Aufklärung rief Heuss die Deutschen dazu auf, Autoritäten von Zeit zu Zeit zu hinterfragen und „selber Verantwortung zu übernehmen“. Als eine jüngere Generation in den 1960er Jahren damit ernst machte und sich die Ära Adenauer ihrem Ende zuneigte, war Heuss schon nicht mehr im Amt. Seine letzten Lebensjahre verbrachte der Altbundespräsident in seinem bescheidenen Häuschen auf dem Stuttgarter Killesberg, das er, ganz Schwabe, mithilfe eines Bausparvertrags hatte bauen lassen. Als Adenauer im Oktober 1963 als Bundeskanzler abgelöst wurde, war Heuss bereits schwer angeschlagen. Er starb im Dezember 1963 im Alter von fast 80 Jahren.
Adenauer, Konrad: Soll Deutschland Kolonialpolitik betreiben? Eine Umfrage, in: Europäische Gespräche 5 (1927), H. 12, S. 611.Heuss, Theodor: Kapp-Lüttwitz. Das Verbrechen gegen die Nation, Berlin 1920.
Heuss, Theodor: Mut zur Liebe (Rede des Bundespräsidenten anlässlich der Feierstunde der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden am 7. Dezember 1949), Bad Nauheim 1949.
Heuss, Theodor: Reparation und Kolonialpolitik, in: Koloniale Rundschau 1926, H. 4, S. 109–112.
Morsey, Rudolf/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Heuss–Adenauer. Unserem Vaterland zugute. Der Briefwechsel 1948–1963, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Berlin 1989.
Morsey, Rudolf/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Heuss–Adenauer. Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren 1949–1959, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Berlin 1997.
Morsey, Rudolf/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Adenauer und die FDP, bearbeitet von Holger Löttel, Paderborn 2013.
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus u. d. L. v. Ernst Wolfgang Becker (Hrsg.): Theodor Heuss. Stuttgarter Ausgabe. Briefe , 8 Bände, Stuttgart 2007–2014.
Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011.
Hertfelder, Thomas: Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013.
Mensing, Hans Peter, Theodor Heuss und Konrad Adenauer im Gespräch. Neue Erkenntnisse zu ihren amtlichen und persönlichen Kontakten, in: ders., Aus Adenauers Nachlass. Beiträge zur Biographie und Politik des ersten Bundeskanzlers, Köln 2007, S. 123-149 (Erstdruck: Thomas Hertfelder [Hrsg.], Heuss im Profil. Vorträge und Diskussionen zum Eröffnungsakt der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart 1997, S. 60–97).
Merseburger, Peter: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2014.
Müller, Guido: Adenauer und Heuss – ein Vergleich der soziokulturellen und politischen Lebenswelten zweier bürgerlicher Politikerbiographien bis 1933, in: Geschichte im Westen 19 (2004), S. 135–148.
Pikart, Eberhard: Theodor Heuss und Konrad Adenauer. Die Rolle des Bundespräsidenten in der Kanzlerdemokratie, Stuttgart 1976.
Radkau, Joachim: Theodor Heuss. München 2013.
Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952. Stuttgart 1986.
Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Staatsmann 1952–1967. Stuttgart 1991.
Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (Hrsg.): Konrad Adenauer. Der Kanzler aus Rhöndorf. Darmstadt 2018.