Hallstein-Doktrin

Hanns Jürgen Küsters

Die „Hallstein-Doktrin", benannt nach Walter Hallstein, Staatssekretär des Auswärtigen Amts (1951–1958), war von September 1955 bis zur De-facto-Anerkennung der DDR in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt im Oktober 1969 die deutschlandpolitische Leitlinie der Bundesregierung. Demnach betrachtete die Bundesregierung es als einen „unfreundlichen Akt" (acte peu amicable), wenn dritte Staaten die DDR völkerrechtlich anerkennen, mit ihr diplomatische Beziehungen aufnehmen oder aufrecht erhalten. Davon ausgenommen war die UdSSR als eine der vier für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte.

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Zusammenfassung

Es existiert kein amtlicher Text, der als "Hallstein-Doktrin" bekannt gegeben wurde. Formuliert wurde die "Hallstein-Doktrin" in folgenden Ausführungen

 

Staatssekretär Hallstein brachte am 16. Januar 1956 in einem vertraulichen Runderlass des Auswärtigen Amts das Ergebnis der Botschafterkonferenz vom 8. Dezember 1955 lediglich intern zur Kenntnis.

Kernstaat Bundesrepublik Deutschland

Bundeskanzler Konrad Adenauer im Gespräch mit Walter Hallstein, rechts neben ihnen sitzt Wilhelm Greve, Botschafter in den USA.
Bundeskanzler Konrad Adenauer im Gespräch mit Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt...

Seit ihrer Gründung 1949 leitete die Bundesrepublik Deutschland aus der Präambel des Grundgesetzes das Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit ab. Aus dem Gedanken der Verantwortung für die in der sowjetischen Besatzungszone und in deutschen Ostgebieten lebenden Menschen erhob die Bundesregierung den Anspruch, „bis zur Erreichung der deutschen Einheit insgesamt die alleinige legitimierte staatliche Organisation des deutschen Volkes" (Adenauer am 21. Oktober 1949 vor dem Deutschen Bundestag) und damit eigentlicher deutscher Kernstaat und Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches zu sein. Zugleich fühlte sie sich beauftragt, dafür zu sorgen, dass „das gesamte deutsche Volk, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands" vollendet. Angesichts ihrer mangelnden demokratischen Legitimität sprach die Bundesregierung, die selbst aus freien Wahlen hervorgegangen war, der DDR das Recht ab, ver­bindlich für das deutsche Volk Stellung zu nehmen. Dieser Alleinvertretungsanspruch und das Bestreben, die DDR international zu isolieren, waren grundlegende Pfeiler der Deutschlandpolitik der Bundesregierung bis zum Inkrafttreten der Pariser Verträge im Mai 1955.

Nichtanerkennung der DDR

Schon im Laufe des Jahres 1954, lange bevor die sowjetische Führung Bundeskanzler Adenauer am 7. Juni 1955 zu Gesprächen nach Moskau einlud, stellte das Auswärtige Amt Überlegungen an, wie man bei Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion die Präsenz von Botschaften der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in Moskau international rechtfertigen solle. Bestrebungen sowohl westlicher Staaten wie auch blockfreier Staaten, handelspolitische oder diplomatische Beziehungen mit der DDR aufzunehmen, implizierten aus Sicht der Bundesregierung die Gefahr einer sukzessiven weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und damit der Verfestigung der Teilung Deutschlands.

Diplomatische Beziehungen zur UdSSR

Die von Bundeskanzler Adenauer bei seinem Besuch in Moskau vom 9. bis 14. September 1955 mit der Sowjetunion vereinbarte Aufnahme diplomatischer Beziehungen machte eine Klarstellung der Bundesregierung erforderlich. Sie musste erklären, warum sie in Moskau einen zweiten deutschen Botschafter akzeptieren würde, anderen Staaten aber das Recht, gleichzeitig diplomatische Beziehungen zu beiden deutschen Staaten zu unterhalten, unter Androhung von Sanktionen praktisch verbieten wollte.

Regierungserklärung 22. September 1955

Konrad Adenauer sitzt mit Unterlagen am Mikrofon neben Walter Hallstein während einer Pressekonferenz
Sie begründeten mehrfach den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland:...

In seiner Regierungserklärung am 22. September 1955 über die Ergebnisse der Moskau-Reise betonte Bundeskanzler Adenauer daher: „Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen Standpunkt bezüglich der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik aufrecht. Ich muss unzweideutig feststellen, dass die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde."
Dieser Grundsatz bedurfte der weiteren Ausführung, als die von den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen im Juli 1955 in Genf einberufene Außenministerkonferenz, die im November 1955 ebenfalls in Genf zusammentrat, keine greifbaren Ergebnisse zur Lösung der deutschen Frage erbrachte. Spiritus rector der Doktrin war nicht Hallstein, wie ein FAZ-Journalist meinte und damit den Namen prägte, sondern der damalige Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Wilhelm G. Grewe.

Botschafterkonferenz

Auf der Botschafterkonferenz am 8. Dezember 1955 in Bonn wurde die „Hallstein-Doktrin" diskutiert. Anschließend erläuterte Ministerialdirektor Grewe am 11. Dezember 1955 die Grundsätze in einem Interview mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk. Er wies darauf hin, dass die Bundesregierung eine Intensivierung der Beziehungen dritter Staaten zur DDR als „unfreundliche Handlung" empfinden werde, auf die man mit gestuften Maßnahmen bis hin zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen reagieren könne. Eine Doppelvertretung Deutschlands bei dritten Staaten werde voraussichtlich den Abbruch der Beziehungen zur Folge haben. Damit ließ die Bundesregierung bewusst Mittel und Umfang ihrer Reaktion offen. Eine Ausnahme bildeten die beiden deutschen Botschaften in Moskau. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion als ehemalige Besatzungsmacht und eine der Vier Mächte rechtfertigte die Bundesregierung mit dem Argument, diese könnten ein Mittel zur Überwindung der Spaltung und zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sein.

Anwendung der "Hallstein-Doktrin"

Anwendung fand die „Hallstein-Doktrin", als das kommunistisch orientierte, aber blockfreie Jugoslawien 1957 und Kuba unter Führung Fidel Castros 1963 diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahmen. Die Bundesrepublik Deutschland brach danach jeweils die diplomatischen Beziehungen zu diesen Staaten ab. Eine umgekehrte Reaktion erfuhr die Bundesregierung im Jahre 1965, nachdem sie diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen hatte und daraufhin eine Reihe arabischer Staaten den Abbruch ihrer Beziehungen zur Bundesrepublik verkündeten, jedoch nicht alle anschließend die DDR völkerrechtlich anerkannten. Infolge der allmählichen Anbahnung von Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten in den 1960er Jahren stellte die Bundesregierung die Anwendung der „Hallstein-Doktrin" zusehends selbst in Frage. Mit der De-facto-Anerkennung der DDR durch Bundeskanzler Brandt im Oktober 1969 und der Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur vertraglichen Regelung der Beziehungen, die 1972 zum Grundlagenvertrag führten, wurde die „Hallstein-Doktrin" praktisch aufgegeben.

  • Grewe, Wilhelm G.: Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart 1960, S. 138-154.
  • Kilian, Werner: Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955-1973. Aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien, Berlin 2001.

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