Holger Löttel
Als der Krieg in Deutschland vor 80 Jahren zu Ende ging, wurde Konrad Adenauer umgehend politisch reaktiviert. Seine Karriere setzte dort wieder an, wo sie 1933 ein jähes Ende gefunden hatte: im Amt des Kölner Oberbürgermeisters. In der Trümmerwüste seiner Heimatstadt lernte Adenauer die Herausforderungen der Nachkriegszeit unmittelbar kennen. Zwar blieb die Rückkehr in die Kommunalpolitik ein Intermezzo, und sie endete unter demütigenden Begleitumständen. Zum Ausklang des Schlüsseljahrs 1945 waren Adenauers außen-, innen- und parteipolitische Vorstellungen aber weit gediehen und damit die Weichen gestellt für seine folgende Karriere, die ihn 1949 ins Kanzleramt führte.
Adenauer erlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs in Rhöndorf, wo er im Frühjahr 1945 mit Unterbrechungen seit etwa zehn Jahren wohnte – zunächst zur Miete, ab 1937 in einem selbstgebauten Haus mit weitläufigem Garten und Fernblick auf das Rheintal. Seine Familie war im Dorf gut gelitten, befand sich wegen der Distanz des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters zum Nationalsozialismus aber auch in einer prekären Situation. Adenauer selbst lebte eher zurückgezogen. Seine Frau Gussie hingegen pflegte die Verbindungen zur Dorfgemeinschaft und traf sich mit den alteingesessenen Rhöndorfern regelmäßig im örtlichen Friseurladen, wo wohl relativ ungeschützt über Politik und den Verlauf des Kriegs gesprochen wurde.
Nach dramatischen Wochen und Monaten im Herbst 1944 waren zunächst Gussie, dann auch Konrad Adenauer aus der Gestapo-Haft in Brauweiler zurückgekehrt. Die Angst vor einem neuerlichen Zugriff des Regimes wog schwer, ebenso die Sorge über die Söhne Konrad Jr., Max und Paul, die sich seit 1942/43 als Soldaten bei der Wehrmacht befanden. Alle drei sollten in Gefangenschaft geraten, im Laufe des Jahres 1945 jedoch wieder freikommen. Derweil wuchs die Zahl der Familienmitglieder in Rhöndorf stetig an: Neben den jüngeren Kindern Libet, Lotte und Georg befanden sich noch Adenauers Schwiegertöchter Lola und Gisela vor Ort. Lola war bereits seit 1943 nach Rhöndorf übergesiedelt; ihre Kinder Irene und Konrad wurden in Honnef geboren, letzterer im Januar 1945. Schließlich überredete Adenauer seine älteste Tochter Ria Reiners, das Kriegsende in Rhöndorf abzuwarten. Dass es im Siebengebirge zu größeren Kampfhandlungen kommen würde, hat er anscheinend nicht vorausgesehen.
Urplötzlich kam der Krieg bedrohlich nahe, nachdem es den Deutschen nicht gelungen war, die Ludendorff-Brücke bei Remagen, nur wenige Kilometer stromaufwärts gelegen, rechtzeitig in die Luft zu sprengen. Während sie die linksrheinischen Höhenzüge sicherten, überquerten US-Truppen am 7. März 1945 den Rhein und rückten von südlicher Richtung auf das Siebengebirge vor, wo sich die Verteidiger verschanzten. Damit entstand eine in vielerlei Hinsicht gefährliche Situation. Der mit Adenauer bekannte Kunsthistoriker Werner Bornheim gen. Schilling, Mitarbeiter am Wallraf-Richartz-Museum in Köln, berichtet von einem alten Rhöndorfer, den junge Volkssturm-Angehörige wegen einer über den Gartenzaun gerufenen Bemerkung („Jungens, geht nach Haus, der Krieg ist zu Ende“) kurzerhand erschossen.
Zwar blieben die rechtsrheinischen Städte Honnef und Königswinter weitgehend verschont, weil die strategisch relevanten Vorstöße der Alliierten anderswo stattfanden. Verdienste erwarb sich auch der in Rhöndorf ansässige Schweizer Generalkonsul Franz-Rudolph von Weiss, der mit Parlamentärflagge über den Fluss ruderte und Zeitfenster für Evakuierungen vereinbarte. Dennoch wurde in der zweiten Märzwoche heftiges Artilleriefeuer ausgetauscht, und Adenauers Anwesen lag völlig ungeschützt in exponierter Lage. Eng gedrängt verbargen sich die Familienmitglieder im Weinkeller am Hang des Berges. Während der Feuerpausen liefen sie über den Innenhof in die Küche und deckten sich mit dem Nötigsten ein. Noch beengter wurde es, als Adenauer vier geflohene französische Kriegsgefangene aufnahm, die sich tagsüber im Wohnhaus, nachts im Kartoffelkeller versteckten. Später ließ er sich den Aufenthalt in einem „Dankschreiben“ quittieren, das vorgelegt werden sollte, „wenn das Haus durch Stellen der Besatzung besichtigt wird.“
Während seine Angehörigen Zuflucht im Keller suchten, verhielt sich Adenauer in der Erinnerung seiner Schwiegertochter Lola eher „leichtsinnig. Er lief ständig in den Garten, und wenn wir ihm zuriefen, er möge sich doch um Gottes willen nicht einer solchen Gefahr aussetzen, antwortete er immer, er wisse schon, was er tue.“ Diese Unvorsichtigkeit hätte ihn am 11. März 1945 beinahe das Leben gekostet. Er stand nämlich, wie er in seinen „Erinnerungen“ zugibt, „sehr unklugerweise“ auf dem höchsten Punkt des Grundstücks, um die Panzerbewegungen am anderen Flussufer zu beobachten, als direkt neben ihm drei amerikanische Granaten einschlugen. Glücklicherweise trug er nur eine Trommelfellverletzung davon. Immerhin zeigten sich die Amerikaner, so Adenauer in den Memoiren, „im weiteren Verlauf sehr viel umgänglicher als bei dieser ersten Begegnung“.
Adenauers Name stand – aus alphabetischen Gründen sogar ganz oben – auf der „Weißen Liste“ politisch unbelasteter Persönlichkeiten, die der militärische Nachrichtendienst CIC für die Rheinprovinz angelegt hatte. Wie unsicher die Informationslage war, zeigt sich freilich daran, dass er als „Former Mayor of Honef [!]“ tituliert wurde und anscheinend keine Klarheit bestand, ob es sich wirklich um das langjährige Stadtoberhaupt von Köln handelte („May be identical with Adenauer, Konrad, Oberbuergermeister of Koeln 1919[!]–1933“). Am 16. März 1945, einem strahlend schönen Frühlingstag, fuhren zwei US-Offiziere am Rhöndorfer Zennigsweg vor. Der Hausherr empfing die Besucher „steif“ und „ernst“. Begleitet wurden sie von dem Honnefer Bürgermeister Johannes Schloemer, in dessen Gegenwart Adenauer aber nicht sprechen wollte, weil er ihn als Vertreter des kollabierenden NS-Regimes ansah (Schloemer wurde daraufhin weggeschickt). Anwesend waren hingegen Werner Bornheim, dem wir einen Bericht über die Unterredung verdanken, und Konsul von Weiss, der soeben wieder einmal von Godesberg übergesetzt war und Adenauer einen spontanen Besuch abstattete.
Als die Amerikaner ihn aufforderten, er solle wieder sein altes Amt als Oberbürgermeister von Köln übernehmen, reagierte Adenauer zögerlich. Das mag insofern überraschen, als er in den zurückliegenden Jahren sicherlich auf eine Reaktivierung nach dem Ende der Hitler-Diktatur gehofft hatte. Er machte aber, hierin bestärkt von seiner Frau, persönliche Bedenken geltend, da er sich um die Sicherheit seiner Söhne sorgte, die ja noch „im Felde“ stünden und „Repressalien zu befürchten“ hätten, wenn er das Angebot annähme (dass derlei Sicherheitsbedenken berechtigt waren, bewies die Ermordung des von den Amerikanern ernannten Aachener Oberbürgermeisters Franz Oppenhoff durch ein NS-Kommando neun Tage später). Generell verweigern wollte sich Adenauer allerdings nicht, und nach längerer Debatte erklärte er sich zu einer „beratenden Mitarbeit“ in Köln bereit. Im Verlaufe des Gesprächs merkte er sogar an, er „fühle sich vor allem dazu ausersehen, ‚das deutsche Volk von Grund auf zum Frieden zu erziehen‘.“ Die politische Zukunftsausgabe, wie er sie definierte, wies also schon über den lokalen Horizont hinaus.
Kurz darauf kehrte Adenauer nach Köln zurück, um dort Gespräche mit den amerikanischen Stellen zu führen. Im Anschluss hieran streifte er durch die Stadt: „alles leer, öde zerstört“. Dabei suchte er auch die Gestapo-Zentrale am Appellhofplatz auf, in der seine Frau im September 1944 inhaftiert und verhört worden war. Im Büro eines „höheren Gestapobeamten“ fiel sein Blick auf einen „Tischleuchter aus Bronze“, von dem es schien, als habe die Gestapo „ihn irgend jemand abgenommen.“ Kurzerhand nahm Adenauer das Stück selbst an sich und stellte es in seinem heimischen Arbeitszimmer neben den Schreibtisch auf. Noch viele Jahre später besaß der Leuchter für ihn eine symbolische Bedeutung: „Ich sehe ihn jeden Morgen in meiner Wohnung“, so schreibt er in seinen Memoiren, „und er mahnt mich an das, was geschehen ist, an das Leid, an das Unrecht – er mahnt mich!“
Während sein Schwager, der frühere Stadtkämmerer Willi Suth, im amerikanischen Auftrag den Aufbau einer rudimentären Verwaltung koordinierte, hielt sich Adenauer in der zweiten Märzhälfte und im April 1945 als Berater in Köln auf. Am 4. Mai, wenige Tage vor der Kapitulation der Wehrmacht, gab er dem Drängen des zuständigen Militärgouverneurs John Knox Patterson nach und übernahm das Amt des Oberbürgermeisters auch offiziell. Für die Bewältigung der Herkulesaufgabe, die ihn in der zerstörten Stadt erwartete, fehlte es an allen Ecken und Enden, nicht zuletzt in personeller Hinsicht. Patterson hatte ihm schon am 20. März über den Befehl des Oberkommandierenden Eisenhower informiert, dass beim Verwaltungsaufbau in den Kommunen keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder zum Zuge kommen dürften. Obwohl Adenauer diese Linie in den folgenden Wochen konsequent vertrat, machte er Bedenken geltend, weil ihm klar vor Augen stand, dass nur ein Bruchteil des verfügbaren Personals nicht in der Partei gewesen war. Diese wenigen Leute wiederum „bekleideten ganz untergeordnete Stellungen, aus denen sich die neue Stadtverwaltung nicht einmal mittlere Beamte bezw. Angestellte auswählen könne.“ Da Patterson jedoch, wie Werner Bornheim notierte, „unnachgiebig“ blieb, musste Adenauer sich fügen. Allerdings scheint in der Folge die Praxis toleriert worden zu sein, die Parteigenossen nur bei der Besetzung höherer Verwaltungsposten auszusortieren. So stellte der Personalmangel zwar nach wie vor ein gravierendes Problem dar, zumal die eingesetzten Mitarbeiter völlig überlastet waren und rasch ausbrannten. Im Sommer 1945 verfügte Köln aber immerhin wieder über eine im Kern funktionsfähige Verwaltung.
Kurzfristig erschienen die Probleme in der Trümmerstadt kaum lösbar. „Die Menschen wohnten notdürftig in den Kellern zerbombter Häuser“, schrieb Adenauer rückblickend: „Gekocht wurde auf primitiv aus Ziegeln zusammengebauten Feuerstellen. Wasser wurde mit Eimern und Blechnäpfen an den wenigen Pumpen, die heilgeblieben waren, geholt.“ Da einzelne Pumpwerke bald wieder den Betrieb aufnehmen konnten, verbesserte sich die Wasserzufuhr der Vororte. In der völlig zerstörten Altstadt sollte das Rohr- und Leitungssystem indes noch längere Zeit unbenutzbar bleiben. Während die Stromversorgung auch der Privathaushalte bis Ende 1945 des Jahres weitgehend gesichert werden konnte, gestaltete sich die Instandsetzung der Gasleitungen, die an vielen Stellen kriegsbedingte Schäden aufwiesen, schwieriger. Die zerstörte Infrastruktur war ebenso ein Problem wie die Nahrungsmittelknappheit und die Wohnraumsituation, als die Menschen im Sommer aus dem Umland in die entvölkerte Stadt zurückströmten. Mit Sorge blickte Adenauer auf den bevorstehenden Winter. Bereits im August stellte er Überlegungen für eine Evakuierung von bis zu 60.000 Personen an. Vehement pochte er bei der Militärregierung auf die Ausgabe von Brennstoffen, damit sich die Bevölkerung bestmöglich selbst versorgen konnte und nicht auf Massenspeisungen durch Gemeinschaftsküchen angewiesen war, die er für kaum durchführbar hielt.
In der Tristesse des Trümmeralltags betrachtete Adenauer die Kultur in all ihren Spielarten als mentale Ressource. Weil er wusste, wie sehr die Kölner an ihrer Brauchtumspflege hingen, setzte er sich für die rasche Inbetriebnahme des Volkstheaters Millowitsch ein: „Jehn'se Herr Millowitsch! Jehn'se auf de Ämter, se kriejen alles was se brauchen […] Und bauen'se so schnell wie möglich, daß de Leute wieder was zu lachen haben“, so gab Willy Millowitsch seine Aufforderung später wieder. Um das kulturelle Erbe der Stadt zu sichern, ließ Adenauer ausgelagerte Meisterwerke der „Kölner Schule“ mit einem „stadtkölnischen Leichenwagen“ von der Burg Hohenzollern in Süddeutschland zurückschaffen. Nachdem die Amerikaner die Bilder vorübergehend konfisziert hatten, wurden sie der Stadt später übergeben. Bereits im August 1945 fand ein erstes Konzert im Gürzenich statt, gefolgt von Auftritten an den städtischen Bühnen und der Oper. Schließlich bemühte sich Adenauer um die von ihm selbst 1919 mitbegründete Universität, die im Dezember 1945 den Vorlesungsbetrieb aufnahm. Im März 1946, als er bereits nicht mehr das Amt des Oberbürgermeisters ausübte, sollte er in der Aula des stark zerstörten Gebäudes eine große Grundsatzrede halten, in der er seine außen- und innenpolitischen Leitlinien für die Nachkriegszeit umriss.
Auch wenn die tagtäglichen Managementaufgaben Adenauer voll absorbierten, dachte er – ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg – in größeren städtebaulichen Planungshorizonten. Seinen Vorstellungen zufolge sollte Köln nicht vom historischen Kern her wieder aufgebaut werden. Wie er Mitte Juli 1945 in einem Zeitungsinterview ausführte, stellte er sich die Schaffung dezentraler Siedlungsräume mit je 15.000 Einwohnern vor, die durch landwirtschaftliche Nutzflächen voneinander getrennt und durch ein System von Ausfallstraßen miteinander verbunden waren. Die Wiedererrichtung der alten Stadt hingegen plante Adenauer als letzten Schritt: „Wir arbeiten also gewissermaßen von außen nach innen.“ Begründet wurde dieses Flächenkonzept nicht nur mit der Trümmer- und Schuttproblematik in der zerstörten Kernstadt. In der Sache wiederholte Adenauer hier die Prämissen seiner Grüngürtelpolitik aus den 1920er Jahren, mit der er die Lebensqualität im urbanen Ballungsraum hatte erhöhen wollen. Darüber hinaus knüpfte er an die Strategie der geografischen Expansion an, die vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Voraussetzung des Kölner Aufschwungs gewesen war. Schon Anfang Juni beantragte er bei den Amerikanern die Eingemeindung umliegender links- und rechtsrheinischen Gebiete (Kreis Köln-Land sowie die Städte Bergisch Gladbach und Bensberg). Wegen des anstehenden Wechsels zur britischen Besatzungsmacht wurde hierüber aber nicht mehr entschieden. Unter den Briten sollten sich Adenauers Pläne bald als Makulatur erweisen.
Obwohl er die politische Mentalität der Amerikaner und ihre administrativen Fähigkeiten im Sommer 1945 wiederholt kritisch beurteilte, kam Adenauer mit den US-Offizieren menschlich gut zurecht, wie sich schon daran zeigt, dass er den Stadtkommandanten John Knox Patterson in Rhöndorf privat empfing. Das Verhältnis zu den Briten, die am 21. Juni 1945 die Militärregierung in Köln übernahmen, gestaltete sich hingegen viel schwieriger als seinerzeit nach dem Ersten Weltkrieg. Für die städtebaulichen Ideen des Oberbürgermeisters waren die neuen Herren nicht empfänglich: „Im Ganzen betrachtet, schwebe Dr. Adenauer mit seinen Plänen zu sehr in den Wolken“, teilte Brigadegeneral John Ashworth Barraclough Oberpräsident Hans Fuchs am 14. Juli mit. Eine personelle Alternative zu Adenauer sei daher „sehr erwünscht“. Die Bedenken wurden nicht geringer, als der Oberbürgermeister gegen die Entscheidung protestierte, die Vergabe von Brennmaterial zum 1. September einzustellen. Anstatt der Anweisung nachzukommen, den Grüngürtel abholzen zu lassen, forderte er, beschlagnahmte Kohlevorräte freizugeben.
Am 6. Oktober 1945 enthob ihn Barraclough als Kommandeur der Nordrhein-Provinz des Amtes. Die Inszenierung des Rauswurfs war besonders demütigend: Adenauer wurde stehend abgekanzelt und musste eine Absetzungsverfügung unterzeichnen, die ihm Untätigkeit und Pflichtvergessenheit bescheinigte. Unter Androhung eines Militärgerichtsverfahrens war es ihm untersagt, einer „wie auch immer gearteten politischen Tätigkeit“ nachzugehen (das Verbot wurde freilich wenige Wochen später aufgehoben). An und für sich war die Entlassung deutscher Amtsträger durch die Besatzungsmächte im Herbst 1945 kein ungewöhnlicher Vorgang. Im Lichte von Adenauers späterer Karriere hat der Rauswurf jedoch eine pikante politische Note erhalten. Er selbst begründete ihn noch Mitte der 1960er Jahre mit der Nähe der Labour-Regierung in London zur deutschen Sozialdemokratie. Tatsächlich hatte sich der Kölner SPD-Politiker Robert Görlinger im Juli 1945 bei den Briten über Adenauers vermeintliche katholische Personalpolitik und seine Milde gegenüber ehemaligen NS-Parteigenossen beschwert. Dass die Absetzung Anfang Oktober hierauf zurückzuführen ist, kann jedoch nicht belegt werden. Möglicherweise gaben auch vertrauliche Gespräche, die Adenauer mit französischen Besatzungsoffizieren führte, den Ausschlag. Kurz zuvor, am 5. Oktober, hatte der französische Ministerpräsident Charles de Gaulle territoriale Ansprüche auf das Rheinland angemeldet und auch ausdrücklich die Stadt Köln erwähnt, die „auf der kürzesten Linie zwischen Paris und Bonn“ liege. Mehr oder weniger zeitgleich würdigte Adenauer in einem Interview mit britischen Pressekorrespondenten de Gaulles Aussagen zur deutsch-französischen Zusammenarbeit und bekannte sich zum Konzept eines „Rhein-Ruhrstaates“ innerhalb der westlichen Besatzungszonen, das er in ähnlicher Form bereits nach 1918 vertreten hatte. Nach Auffassung des Generalkonsuls von Weiss dürften diese Äußerungen, die aus britischer Sicht ja durchaus alarmierend wirken mussten, zu seiner Entlassung „beigetragen“ haben.
„Unsere Zukunft liegt sehr schwarz verhangen vor uns“, hatte Adenauer wenige Tage zuvor an einen Freund der Familie geschrieben. Nun freilich, nachdem er von den erdrückenden Amtspflichten in Köln entbunden war, erhielt er Gelegenheit, seine politischen Gedanken zu sortieren und so Licht in die „schwarz verhangene Zukunft“ zu bringen. Dieser Klärungsprozess betraf zunächst das Feld der internationalen Beziehungen. Obwohl er in seinem bisherigen Leben nur in überwiegend regionalen Funktionen tätig gewesen war, bewies er im Spätherbst 1945 bemerkenswerten außenpolitischen Weitblick. „Russland“, so hielt am 31. Oktober in einem knappen Memorandum fest, entzog sich der „Zusammenarbeit mit den anderen Großmächten“ und kontrollierte die „von ihm beherrschten Gebiet[e] völlig nach eigenem Gutdünken“. Damit war die „Trennung in Osteuropa, das russische Gebiet, und Westeuropa eine Tatsache“. Die Schlussfolgerung, die er hieraus ableitete, beschreibt schon die Konturen seiner künftigen Außenpolitik: Da der „nicht von Russland besetzte Teil Deutschlands“ ein „integrierender Teil Westeuropas“ sei, müsse er politisch zusammengeschlossen und wirtschaftlich konsolidiert werden. Das Sicherheitsbedürfnis vor allem Frankreichs könne „auf die Dauer“ nur durch enge wirtschaftliche Verflechtung Westdeutschlands mit seinen Nachbarn befriedigt werden. Als „wünschenswerte[s] Endzie[l]“ schwebte Adenauer schon jetzt eine Art „‚Union der westeuropäischen Staaten‘“ vor.
Neben der außenpolitischen Positionierung orientierte sich der abgesetzte Oberbürgermeister an der Jahreswende 1945/1946 auch in der künftigen Parteipolitik. Den totalitären Ideologen seiner Zeit setzte er eine „christlich-humanistische Weltanschauung“ entgegen, die sich aus den „ethischen Grundsätzen des Christentums“ speiste, wie er im Februar 1946 an den liberalen Politiker Wilhelm Heile schrieb. Obwohl ihm die konfessionsübergreifende Zusammenfassung der christlichen Kräfte schon länger am Herzen lag, ist Adenauer kein CDU-Gründungsmitglied der ersten Stunde gewesen. Zur „Christlich-Demokratische Partei“, deren „Kölner Leitsätze“ vom Sommer 1945 die Handschrift der christlichen Gewerkschaften trugen, blieb er auf Distanz. Innerhalb des christlich-demokratischen Spektrums neigte er eher einer liberalen Auffassung zu, die den Stellenwert des Individuums in der Gemeinschaft hervorhob. Anfang 1946 legte Adenauer in Rhöndorf einen Programmentwurf nieder, der zum Verhältnis von „Einzelperson und Staat“ festhält: „An der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person findet die Macht des Staates ihre Grenzen“. Hieraus leitet sich die politische und religiöse Freiheit ebenso ab wie der Primat des Rechts und die Gewährung von Rechtssicherheit. In Bezug auf demokratische Willensbildungsprozesse hielt er fest: „Die Mehrheit hat kein willkürliches und uneingeschränktes Recht gegenüber der Minderheit. Auch die Minderheit hat Rechte und Pflichten.“ Das war das ideelle Rüstzeug, mit dem Adenauer kurz nach seinem 70. Geburtstag im Januar 1946 seine Karriere als CDU-Parteiführer begann.
Das Schlüsseljahr 1945 war von entscheidender Bedeutung für Adenauers weiteres Leben. Mit Glück hatte er den Untergang der NS-Diktatur und das Kriegsende im Rheinland 1944/45 überstanden. Sodann wäre er beinahe als hochverdienter Oberbürgermeister der Zwischen- und Nachkriegszeit in die Annalen der rheinischen Landesgeschichte eingegangen. Die Weichen für seine langjährige Kanzlerschaft stellte strenggenommen auch John Ashworth Barraclough, als er ihn im Oktober 1945 aus dem Amt warf. In den Monaten zuvor hatte er die Untiefen der deutschen Nachkriegspolitik – die Spannungen im Verhältnis zur Besatzungsmacht oder die Probleme der personellen Kontinuitäten zur NS-Zeit – auf der Kölner Mikroebene kennengelernt. Auch das sollte ihm für die kommenden Jahre eine wichtige Lehre sein.
Lola Adenauer, Mein Schwiegervater, der Kanzler, Kölnische Rundschau vom 20., 22., 24., 27., 29., 31.12.1975, 2.1., 7.1., 9.1.1976.
Werner Bornheim gen. Schilling: Der rheinische Phönix. Konrad Adenauer 1945 – Erinnerungen eines Weggefährten, in: Die politische Meinung 27 (1982), H. 200, S. 44–45, H. 201, S. 104–119.
Kriegsende und Neuanfang am Rhein. Konrad Adenauer in den Berichten des Schweizer Generalkonsuls Franz-Rudolph von Weiss 1944–1945, hg. v. Hanns Jürgen Küsters und Hans Peter Mensing, München 1986.
Rudolf Morsey/Hans-Peter Schwarz (Hg.): Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Adenauer im Dritten Reich, bearb. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1991.
Toni Diederich, Adenauer als Kölner Oberbürgermeister von Mai bis Oktober 1945, in: Hugo Stehkämper (Hg.), Konrad Adenauer. Oberbürgermeister von Köln. Festgabe der Stadt Köln zum 100. Geburtstag ihres Ehrenbürgers am 5. Januar 1976, Köln 1976, S. 499–530.
Hans Peter Mensing, „dass sich die Fama auch meiner mysteriösen Angelegenheit bemächtigt hat“. Neues zur Entlassung Adenauers als Kölner Nachkriegsoberbürgermeister im Herbst 1945, in: ders., Aus Adenauers Nachlass. Beiträge zur Biografie und Politik des ersten Bundeskanzlers, Köln 2007, S. 31–52.
Werner Schäfke: Köln nach 1945. Die Geschichte unserer Gegenwart, Daum 2018.