Die Rhöndorfer Konferenz

Sabine Steidle

Melanie Eckert

Am 21. August 1949, genau eine Woche nach der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag, fand in Konrad Adenauers Privathaus eine Besprechung führender Politiker der CDU und CSU statt, die als „Rhöndorfer Konferenz“ in die Geschichte einging. Die Teilnehmer einigten sich auf die erste Regierungskoalition der Bundesrepublik, auf Adenauer als Bundeskanzler sowie auf Theodor Heuss als ersten Bundespräsidenten. Als Gastgeber übernahm der Hausherr die Leitung der Gespräche. Im Hinblick auf die partei- und personalpolitischen Richtungsentscheidungen setzte er sich auf ganzer Linie durch – auch wenn die Bestätigung durch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erst später erfolgte.

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Schwierige Ausgangslage nach der ersten Bundestagswahl

Der erste Vorsitzende der CDU in der britischen Besatzungszone, Konrad Adenauer (M), bei einer...

Konrad Adenauer hatte sich 1948 als Präsident des Parlamentarischen Rats für eine Spitzenstellung im neu zu gründenden Staat empfohlen. Im Sommer 1949 rechnete jedoch noch niemand damit, dass der über Siebzigjährige als erster Bundeskanzler die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland vierzehn Jahre lang entscheidend prägen würde.

Die Bundestagswahl am 14. August 1949 hatte CDU und CSU mit 31,0 % eine knappe Mehrheit vor der SPD beschert, die auf 29,2 % der abgegebenen gültigen Stimmen kam. Keine Partei verfügte allein über die erforderliche Mehrheit zur Regierungsbildung. Ein Koalitionsbündnis war zwingend und der Regierungsauftrag lag bei der Union. Eine Große Koalition zwischen CDU, CSU und SPD, die auch in manchen Bundesländern praktiziert wurde, bot sich an. Adenauer hingegen favorisierte ein bürgerliches Bündnis mit der FDP und der Deutschen Partei (DP), einer hochkonservativen niedersächsischen Regionalpartei, die in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen war und zur Mehrheitsbeschaffung gebraucht wurde.

In einer Koalition mit der SPD wären Adenauers wichtigste politische Ziele nicht zu verwirklichen gewesen: Er trat für eine entschiedene Westbindung der Bundesrepublik ein, um internationales Vertrauen wiederzuerlangen. In Kontinuität zur Arbeit des Frankfurter Wirtschaftsrats seit 1947 wollte Adenauer zudem ein klares wirtschaftspolitisches Profil unter der Leitidee der Sozialen Marktwirtschaft. Darüber hinaus brauchte die junge Demokratie aus Adenauers Sicht eine möglichst stabile Regierung mit einer starken Opposition, um zu verhindern, dass die politischen Ränder rechts und links Zulauf bekämen. Rückblickend erklärte er in einem Interview mit dem ZDF am 15. Oktober 1963: „[…] der dritte Grund war der, daß nach meinen Erfahrungen aus der Vergangenheit, aus der Vergangenheit Deutschlands im Reichstag und in der Weimarer Zeit doch es gut ist, wenn eine große Partei führt und wenn nicht zwei große Parteien durch Auseinandersetzungen, interne Auseinandersetzungen ihre Kraft verschleißen im Streit miteinander.“

Aussprache führender CDU-Politiker in familiärer Atmosphäre

In den Tagen nach der ersten Bundestagswahl äußerten sich zahlreiche Politiker öffentlich zu dem Wahlergebnis und möglichen Koalitionen. Die Auffassungen und Erwartungen gingen dabei weit auseinander und differierten auch innerhalb der Parteien. Adenauer, der sich zunächst mit konkreten Vorschlägen zurückgehalten hatte, lud am 21. August 1949 maßgebliche Unionspolitiker in sein Privathaus ein und initiierte damit eine entscheidende Weichenstellung für die frühe Bundesrepublik.

Es war ein schwül-warmer Sonntag, als die geladenen Gäste die Stufen zum Wohnhaus auf dem „Faulen Berg“ im kleinen Weinort Rhöndorf südlich von Bonn hinaufstiegen. Dass die Frage der Bildung einer Regierungskoalition sowie die personelle Besetzung des Kanzler- und des Bundespräsidentenamtes auf der Tagesordnung des Hausherrn standen, war im Vorfeld den Wenigsten bewusst. Offiziell lud Adenauer zur Aussprache nach den Wahlen ein, einer Nachbesprechung in der familiären Atmosphäre seines Privathauses.

Laut der im Archiv des Adenauerhauses überlieferten Teilnehmerliste(n) nahmen 26 Unions- und unionsnahe Politiker an den Verhandlungen teil. Darunter waren der Frankfurter Wirtschaftsdirektor Ludwig Erhard, der Kölner Bankier Robert Pferdmenges, Hermann Pünder, Oberdirektor des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, und nicht zuletzt der junge CSU-Generalsekretär Franz Josef Strauß. Wie Adenauer favorisierten diese Politiker eine bürgerliche Koalition. Adenauers Tagungsregie bezog aber auch Sympathisanten einer Regierungsbildung mit der SPD ein – etwa den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier, den Landeschef von Württemberg-Hohenzollern Gebhard Müller, und den niedersächsischen Politiker Günther Gereke. Verhindert waren Friedrich Holzapfel, Fridolin Heurich und Hans Ehard. Mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard hatte Adenauer sich bereits tags zuvor in Frankfurt abgesprochen und ihm das Amt des Bundesratspräsidenten zugesichert. Die harten Kritiker einer kleinen Koalition, darunter der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold, waren nicht eingeladen, was bereits wenige Tage später in der Presse thematisiert wurde.

Streit um die erste Regierungskoalition und politische Spitzenämter

Das Treffen im Privathaus, laut Adenauer nur mit dem fadenscheinigen Argument gewählt, damit sie „möglichst wenig ausgehorcht würden“, bot einen entscheidenden Vorteil: Mit „schöner Selbstverständlichkeit“, wie Pferdmenges später süffisant kommentierte, konnte der Hausherr, politisch bereits durch seine Ämter als Vorsitzender der CDU im Rheinland und in der britischen Zone gestärkt, den Vorsitz übernehmen.

Als ungewohnt spendabler Gastgeber ließ Adenauer seine Töchter auf feinem Porzellan ein kaltes Buffet servieren – eine Köstlichkeit in jenen Jahren, in denen die Erinnerung an Mangel und Hunger noch frisch waren. Franz Josef Strauß spottete später, er habe nie wieder solche „Reichlichkeit auf Privatkosten“ Adenauers erlebt. Als die Gäste gestärkt waren, lenkte Adenauer das Gespräch zunächst auf die Koalitionsfrage. Er wertete das Wahlergebnis als klare Entscheidung für eine Fortsetzung der Politik des Frankfurter Wirtschaftsrats und damit für eine Koalition mit der FDP unter Ausschluss der SPD. Diese sei ohnehin nicht an einer Zusammenarbeit mit der CDU interessiert. Wegen nationalistischer Töne im Wahlkampf äußerte sich Adenauers zunächst skeptisch im Hinblick auf eine Regierungsbeteiligung der DP, änderte seine Meinung jedoch im Verlauf der Diskussion, nachdem sich mehrere Politiker für ein Zusammengehen mit der Partei ausgesprochen hatten.

Theodor Blank, Erich Köhler und Carl Schröter sprachen sich ebenfalls gegen eine Regierungsbeteiligung der SPD aus. Ludwig Erhard erwies sich in der Diskussion als wichtiger Unterstützer Adenauers. Im Wahlkampf hatte er als populärer Redner sein Konzept der Sozialen Marktwirtschaft vertreten. Während der Rhöndorfer Konferenz ließ er gar die Bemerkung fallen, in einer Großen Koalition als Wirtschaftsminister nicht zur Verfügung zu stehen. Ähnlich ultimativ äußerte sich Franz Josef Strauß. Anders als dieser jedoch in seinen „Erinnerungen“ darstellte, hatte er keineswegs einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis der Aussprache. Schon vor Strauß‘ Wortmeldung hatten sich die meisten Konferenzteilnehmer von einer Koalition mit FDP und DP überzeugen lassen.

Anschließend stand die Frage der Kanzlerschaft im Raum. Wer Adenauer ins Gespräch brachte oder ob er selbst seinen Hut in den Ring warf, darüber gehen die Erinnerungen der Teilnehmer auseinander. Zwar gab Adenauer später an, er sei über seine Nominierung „überrascht“ gewesen, allerdings hebelte er das wichtigste Argument gegen seine Kanzlerschaft, sein fortgeschrittenes Alter, aus, bevor es zur Sprache kam: Bereits vor der Besprechung hatte er seinen Arzt Professor Paul Martini konsultiert und sich attestieren lassen, dass der Amtsausübung für „ein – zwei Jährchen“ aus medizinischer Sicht nichts entgegensprach. Nicht einmal Adenauer konnte damals geahnt haben, dass es 14 Jahre werden sollten. Das Bundespräsidentenamt verwarf er klar: „Die wichtigste Persönlichkeit ist der Bundeskanzler. Präsident soll ein anderer werden, ich will Kanzler werden.“ Adenauer schlug stattdessen Theodor Heuss vor – eine Personalie, die zwar nahelag, da Heuss Vorsitzender des größten Koalitionspartners FDP war, aber dennoch bis zuletzt in CDU und CSU umstritten blieb.

Mythenbildung durch Presse und Teilnehmerberichte

Geschickt sorgte Adenauer dafür, dass die Ergebnisse der scheinbar inoffiziellen Aussprache sich schnell medial verbreiteten. Rasch bildeten sich durch Presse und Teilnehmerberichte Mythen. Bis heute hält sich das sehr reduzierte Bild, Adenauer hätte seine Kanzlerschaft gutem Essen und reichlich Wein zu verdanken. Beides tischte er seinen Gästen zwar auf und schaffte damit eine angenehme Atmosphäre, doch lukullische Verführungen allein dürften kaum ausschlaggebend für die Zustimmung der Teilnehmer, allesamt versierte Politiker und Christdemokraten der ersten Stunde, zu seiner inoffiziellen Kanzlernominierung gewesen sein. Darüber hinaus waren Adenauer und Heuss bereits vor der Bundestagswahl in der Presse als mögliche Kandidaten für Spitzenämter des neuen Staates gehandelt worden.

Die Teilnehmer der inoffiziellen Rhöndorfer Zusammenkunft verfügten über keinerlei Legitimation für eine endgültige Entscheidung. Zwar hatte sich Adenauer in seinem Wohnhaus in den für ihn wichtigsten Punkten durchgesetzt, doch blieben parteiinterne Kritiker skeptisch. Nach dem Treffen erreichten ihn Briefe von Konferenzteilnehmern, die über allzu detaillierte öffentliche Äußerungen von Anhängern einer bürgerlichen Koalition und entsprechend umfangreiche Presseberichte verärgert waren. Karl Arnold signalisierte noch am 23. August Zustimmung zu Adenauers Linie, nahm diese anschließend jedoch wieder zurück. Am 25. August schrieb Adenauer an Franz Etzel, Arnold habe einen weiteren entschiedenen Vorstoß in Richtung Große Koalition gemacht, „die Sache ist aber erledigt.“ Gefährlich für Adenauers Ziele blieb zudem der bayerische Ministerpräsident Ehard, der sich am 30. August in einer Presseerklärung öffentlich distanzierte und klarstellte, dass er Bindungen irgendwelcher Art nicht anerkennen würde, solange die maßgeblichen Gremien nicht gesprochen hätten. Allerdings war die Erklärung, in der zusätzliche Ministerposten für die CSU gefordert wurden, bewusst vage gehalten, so dass sie Ehard alle Optionen offenhielt.

Schwierige Regierungsbildung

Erstes Kabinett der Regierung Adenauer, 15. September 1949.
Konrad Adenauer wird am 20. September 1949 vom Präsidenten des Deutschen Bundestages, Erich...

In der Öffentlichkeit dominierte ohnehin der Eindruck, dass die Würfel bereits gefallen seien. Das selbstsichere Auftreten Adenauers unterstützte dies. Mit medialem Rückenwind ging er wenige Tage später in die entscheidenden Sitzungen und wurde offiziell nominiert. Am 31. August einigten sich die Landesvorsitzenden, Ministerpräsidenten, Minister und Landtagspräsidenten von CDU und CSU in den drei Westzonen auf das Ziel einer Regierungskoalition mit der FDP und der DP. Die neu konstituierte Bundestagsfraktion der CDU/CSU bestätigte am 1. September die Rhöndorfer Weichenstellung mit einem offiziellen Beschluss. In diesen Sitzungen hatte wiederum Konrad Adenauer den Vorsitz inne und bekräftigte erneut seine Argumente für eine Koalition mit FDP und DP.

Trotz der umsichtigen Vorbereitung gestaltete sich die anschließende Regierungsbildung kompliziert und langwierig. Zwar war Adenauers personalpolitisches Kalkül aufgegangen: Die Bundesversammlung hatte Theodor Heuss am 12. September zum Bundespräsidenten gewählt, die Kanzlerwahl war am 15. September mit der denkbar knappen Mehrheit von einer Stimme erfolgt. Dennoch konnte Adenauer erst fünf Tage später der Öffentlichkeit sein Kabinett präsentieren. Anders als mit Hans Ehard vereinbart, war Karl Arnold am 7. September zum Präsidenten des Bundesrats gewählt worden. Dies hatte für eine kurzfristige Verstimmung in der CSU gesorgt und Adenauer gezwungen, Ehards Forderungen nach einem größeren Gewicht in der Regierungskoalition durch weitere Ministerposten für die bayerische Schwesternpartei gerecht zu werden.

Weitreichende Wirkung der Rhöndorfer Konferenz – Adenauers bedeutendste Leistung?

Bei allen Schwierigkeiten – die Rhöndorfer Konferenz war für die christdemokratischen Parteien und für die Bundesrepublik eine entscheidende Weichenstellung. Der 73-jährige Adenauer, der bereits mit seiner Arbeit im Parlamentarischen Rat der entstehenden Bundesrepublik ein tragfähiges Gerüst gegeben hatte, legte mit dem parteipolitischen Kniff im Rhöndorfer Wohnhaus die Grundlagen für seine Kanzlerschaft und die frühen Jahre der Bonner Republik. Die Aushandlung der ersten bürgerlichen Koalition bildete den Auftakt für das Drei-Parteien-System, das bis in die 1980er Jahre hinein stabile Mehrheiten garantierte und dafür sorgte, dass klare politische Alternativen zur Wahl standen. Rückblickend betrachtete Adenauer die Ablehnung einer Großen Koalition als seine wichtigste, für die Bundesrepublik prägende Entscheidung. Auf die Frage des amerikanischen Journalisten C. L. Sulzberger nach seinen bedeutendsten Leistungen nannte er am 22. Juli 1963 als erstes die Rhöndorfer Konferenz: „Ich habe damals durchgesetzt in einer Besprechung von etwa 20 Personen in meinem Hause in Rhöndorf, daß die CDU/CSU beschlossen hat, nicht mit den Sozialdemokraten zu gehen […]. Dadurch ist die Politik der ganzen folgenden Zeit bestimmt worden […].“

  • Adenauer, Konrad: Erinnerungen 1945–1953. Stuttgart 1965.
  • Geppert, Dominik: Die Ära Adenauer. Darmstadt (3. Aufl.) 2012.
  • Küsters, Hanns Jürgen (Hg.): Konrad Adenauer – Der Vater, die Macht und das Erbe. Das Tagebuch des Monsignore Paul Adenauer 1961–1966. Paderborn 2017.
  • Morsey, Rudolf: Die Rhöndorfer Weichenstellung vom 21. August 1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 28/4 (1980), S. 508–542.
  • Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952. Stuttgart 1986.
  • Weymar, Paul: Konrad Adenauer. Die autorisierte Biographie. München 1955.

  • Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949. Bearb. von Udo Wengst. Düsseldorf 1985. (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; 3)
  • Informationsgespräch mit Cyrus L. Sulzberger vom 22.7.1963 (Wortprotokoll), StBKAH I/ 02.31, in: Adenauer. Teegespräche 1961–1963, Bd. 4. Bearb. von Hans Peter Mensing (Rhöndorfer Ausgabe, hg. Von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz). Berlin 1992, S. 401–410.
  • Informationsgespräch mit Prof. Dr. Klaus Epstein am 13.8.1963 (Wortprotokoll), StBKAH I/ 02.31, in: Adenauer. Teegespräche 1961–1963, Bd. 4. Bearb. von Hans Peter Mensing (Rhöndorfer Ausgabe, hg. Von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz). Berlin 1992, S. 416–428.
  • Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Akten: StBKAH I/ 02.31, 06.07 und 07.26.

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